Hollys Weihnachtszauber
gut so, weil ich nämlich unmittelbar nach ihrer schlichten Beerdigung im Stil der Rätselhaften Baptisten schnurstracks zu einem meiner Haushüter-Jobs düsen musste. Doch als ich kurz vor meiner Abreise in dem kleinen Blechkoffer, in dem sie ihre Schätze aufbewahrte, ihre Tagebücher fand, hatte mich das zutiefst schmerzlich berührt …
Nachdem ich ihr schmales Scheibchen von Reihenhaus in Merchester abgeschlossen hatte (nicht, dass sich irgendetwas Stehlenswertes darin befunden hätte), nahm ich den Koffer mit zu mir nach Hause: Der Schlüssel dazu hing bei den anderen an ihrem Schlüsselbund. Da ich ab und zu einen Blick auf den Inhalt erhascht hatte, konnte ich mir ungefähr denken, was dieser Koffer enthielt – Postkarten aus Blackpool, wo meine Großeltern regelmäßig ihren Sommerurlaub verbracht hatten, meine alljährlichen Klassenfotos, Schulzeugnisse und solche Sachen – in Schichten abgelagerte Vergangenheit.
Eigentlich hatte ich den Koffer nur in der Absicht geöffnet, ihren schmalen goldenen Ehering hineinzulegen, dann aber doch einige Papierschichten hochgehoben, um nachzusehen, was darunter war – und ganz zuunterst entdeckte ich ein dünnes Bündel kleiner, billiger Schulhefte mit der Aufschrift »Ester Rowan«, von brüchig gewordenen Gummibändern zusammengehalten. Als ich das erste dieser Hefte aufschlug, fand ich so etwas wie eine bruchstückhafte Schilderung ihrer Erlebnisse als Krankenpflegerin gegen Ende des Krieges. Der erste Eintrag war auf Oktober 1944 datiert, begann jedoch mit einem Rückblick auf vorangegangene Ereignisse:
Mit fünfzehn hatte ich angefangen, als Schwesternhelferin zu arbeiten, und so kam es, dass ich bei Ausbruch des Krieges nicht wie viele andere Mädchen aus Merchester zu harter Schwerarbeit in die Munitionsfabriken geschickt wurde.
Ich staunte, in welch jungem Alter man damals schon anfing zu arbeiten – und, als ich den folgenden Eintrag las, wie standhaft sie gewesen war:
Obwohl ich ihn gebeten hatte, bis zu seiner Einberufung zu warten, meldete sich Tom, mein Liebster seit Kindheitstagen, sofort zur Navy. Und zu meinem großen Kummer, wie auch dem seines armen, verwitweten Vaters, kam er tatsächlich schon ganz zu Anfang ums Leben. Danach beschloss ich, alle mädchenhaften Gedanken an Liebe und Heirat beiseitezuschieben, und stürzte mich in meine Arbeit als Krankenpflegerin.
Die letzte Zeile erinnerte mich stark daran, wie ich selbst kurz nach Alans Tod in ein anderes Haus gezogen war und mich in einen neuen Job gestürzt hatte: Nur dass es in meinem Fall nicht wie Standhaftigkeit wirkte, sondern mehr wie eine Verleugnung all der wundervollen Jahre, die wir miteinander verbracht hatten.
Ich wusste, dass Oma letztlich dann den Vater ihrer Jugendliebe geheiratet hatte – sie hatte mir einmal erklärt, dass sie beide meinten, einander Trost und Halt geben zu können –, wo also dieser Ned Martland ins Spiel gekommen sein sollte, war mir völlig unbegreiflich! Allmählich hatte ich schon fast das Gefühl, als hätte ich mir das Ganze nur eingebildet …
Auf den folgenden Seiten erging Oma sich offenbar in einer kleinen moralisierenden Abhandlung über die Schrecken des Krieges, sodass ich die Tagebücher wieder in den Koffer legte, um sie nach meiner Rückkehr zu lesen.
Dann verbrachte ich eine Woche in Devon, wo ich für einen meiner Stammkunden ein Cottage mit zwei Wellensittichen namens Marilyn und Monroe, dem Yorkshire Terrier Yoda und sechs namenlosen Hühnern hütete.
Dabei konnte ich zur Ruhe kommen und hatte Luft, um in Gedanken vieles zu ordnen – und außerdem eine große und vielleicht lebensverändernde Entscheidung zu treffen –, bevor ich wieder heimreiste, seelisch darauf vorbereitet, Omas Haus auszuräumen, das einer kirchlichen Wohlfahrtsorganisation gehörte. Man drängte mich, es frei zu machen und die Schlüssel zurückzugeben, da vermutlich schon zahlreiche obdachlose Pfarrerswitwen auf einer langen Warteliste standen.
Bis zu meinem nächsten Haushüter-Auftrag hatte ich eine Woche Zeit und ging davon aus, dass dies vollauf genügte. Damit lag ich auch ganz richtig, denn ich war so gut wie fertig und freute mich schon darauf, zum Haushüten in einen abgelegenen Ort der Highlands zu entfliehen, wo ich Weihnachten ungestört umgehen und gut ins neue Jahr kommen könnte, als dieser Auftrag Knall auf Fall abgesagt wurde.
Ellen, die alte Schulfreundin (als solche bezeichnet sie sich jedenfalls – Laura und ich hingegen
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