Hollys Weihnachtszauber
zugezogener Reißverschluss, der obendrein mit einem Vorhängeschloss gesichert war, womöglich all die Jahre ein romantisches Geheimnis bewahrt? Hatte sie etwa, ebenso wie ich, ihr Leben ohne den Mann verbracht, den sie wahrhaft liebte?
Womöglich ist das ein Familienfluch? Das würde auch erklären, warum sie nach Alans Tod immer wieder davon sprach, die Sünden der Väter würden noch die nachfolgenden Generationen heimsuchen – wenngleich davon, wie ich ihr erklärte, genau genommen ja ich betroffen sein müsste, und nicht mein Mann. Falls es jedoch einen Familienfluch gibt, wird er bei mir vermutlich enden, denn ich bin die Letzte der Linie und schon über fünfunddreißig, sodass meine Frucht ernstlich am Strauch zu welken droht. Auch darüber hatte ich in letzter Zeit mehr als genug nachgedacht.
Was Alans letzte Worte gewesen waren, oder ob er überhaupt etwas gesagt hatte, weiß ich nicht, denn ich hatte noch geschlafen, als er vor der Arbeit zu seiner frühmorgendlichen Joggingrunde durch den nahe gelegenen Park aufgebrochen war. Als ich aufwachte und nach unten ging, war er ebenso unerklärlich spurlos verschwunden wie das Geisterschiff Mary Celeste . Das Radio plärrte irgendeinen dümmlichen Weihnachtspopsong in die leere Küche, und seine Tasche, voll mit einem Stapel korrigierter Schulhefte, wartete auf dem Fußboden neben der Tür. Auf dem Tisch standen ein benutzter Kaffeebecher samt Teller sowie eine Tupperdose mit Sandwiches, und der Wasserkessel war schon fast abgekühlt.
Als ich verwundert und mit einem ersten Anflug von Besorgnis dastand, kam die Polizei und teilte mir mit, es habe einen Unfall gegeben, und Alan würde nie wieder nach Hause kommen.
»Reden Sie doch keinen Unsinn«, hörte ich meine Stimme unwirsch antworten, »ich mache Ente mit selbst gekochter Sauerkirschsoße als Weihnachtsessen – das ist sein Leibgericht.«
Und dann, zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, war ich ohnmächtig geworden.
Alan hatte einen Hund retten wollen, der auf dem Ruderboot-Weiher durchs Eis gebrochen war. Wie bescheuert war das denn? Ich meine, wenn ein Hund schon einbrach, dann ein Mann wie Alan natürlich auch, selbst wenn er nicht schwer war. Der Hund war offenbar kein Rettungshund gewesen, denn er war durch das von Alans Sturz zerbrochene Eis geschwommen, hinausgeklettert und davongerannt.
Ich hatte eine solche Wut auf Alan, dass ich die einzelne rote Rose, die mir irgendwer bei der Beerdigung reichte, heftig ins Grab schleuderte und rief: »Was hast du dir dabei gedacht, du Blödmann?«
Und schließlich war ich auf der verschneiten Grabkante ausgeglitten und wäre beinahe hinterhergefallen, auch wenn das einzig und allein auf das große Glas Brandy zurückzuführen war, das meine Freundin Laura, die zugleich Alans Schwester war, mir vor unserem Aufbruch aufgenötigt hatte. Zum Glück stand ihr Mann Dan auf meiner anderen Seite und riss mich im letzten Moment zurück, und dann kam Oma, die bei einer kleinen Gruppe älterer Freunde der Rätselhaften Baptisten gestanden hatte, um das Grab herum und packte mich wie eine Wärterin fest am anderen Arm.
Zu dem Zeitpunkt jedoch war ich schon völlig am Ende meiner Kräfte: Kummer, Zorn und Schuldgefühle (Gewissensbisse, weil ich es abgelehnt hatte, mit ihm zusammen das Joggen anzufangen) gingen so nahtlos ineinander über, dass ich kaum wusste, wo das eine aufhörte und das andere anfing.
Er hatte mich alleingelassen und mir damit den Zugang zu jeglicher Zukunft, die wir geplant hatten, versperrt. Wie konnte er nur? Ich hatte immer geglaubt, wir wären wie Yin und Yang, ein jeder die bessere Hälfte des anderen, Seelengefährten und dazu bestimmt, bis in alle Ewigkeit zusammenzubleiben – in welchem Fall ich mehr als nur ein Wörtchen mit ihm zu reden hätte, wenn ich ihn schließlich wieder einholen würde.
Meine Bewältigungsstrategie hatte darin bestanden, im Gegenzug nun Alan aus meinem Leben zu verdrängen, nur an seinem Todestag Ende Dezember meinem Kummer freien Lauf zu lassen und alle Erinnerungen an fröhliche Weihnachtsfeste, die er mich während der allzu kurzen Jahre unserer Ehe lieben gelehrt hatte, gründlich auszublenden.
Und jetzt hatte ich noch weniger Grund, Weihnachten zu feiern …
Weihnachten? Pah, alles Quatsch!
Kapitel 1
Mutterschaftsurlaub
Da Oma sich im Lauf der Jahre still und heimlich immer mehr von mir zurückgezogen hatte, war ihr Tod offen gestanden kein allzu großer Schock für mich. Das war nur
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