Holst, Evelyn
dass es Dezember war. Keine Zeit für Eis. Und keine Zeit für die Liebe. Jedenfalls nicht für diese Liebe, die sich einerseits so richtig anfühlte und doch andererseits so absurd und verkehrt war.
Nach zehn Minuten beruhigte sich ihr Herz.
Genau in dem Moment, als auch Hendriks wieder anfing zu schlagen.
Marion hatte drei Schlaftabletten genommen und als sie nach einem vierstündigen, traumlosen Schlaf wieder aufwachte, gab es die eine trügerische Sekunde direkt nach dem Aufwachen, wo sie dachte: Ich hab es ihm endlich gesagt! Ich bin wieder frei! Sie stand auf und als sie zu ihrem seidenen Morgenmantel griff, fiel ihr alles wieder ein. Alles kam wie eine Lawine zurück. Der angespannte Abend, an dem sie sich nicht getraut hatte, ihm die Wahrheit zu sagen, der Streit im Auto, der Unfall, die Intensivstation. Ihr Mann liegt im Koma, Frau von Lehsten. Er ist tot, dachte sie, während sich alles in ihr zusammendrückte, er ist tot, weil du ihn nicht mehr wolltest. Er hat sie gefühlt, deine Ablehnung und Verzweiflung, er ist gestorben an dem Herzen, das du ihm gebrochen hast. Normalerweise neigte sie nicht zu pathetischen Formulierungen, aber als sie an diesem Morgen zum Telefon griff, da flüsterte sie: „Lieber Gott, wenn er noch lebt, werde ich ihm mein restliches Leben weihen, das verspreche ich dir.“ Sie wählte die Nummer des Krankenhauses und es dauerte endlos, bis sie endlich mit dem richtigen Arzt verbunden war: „Hier von Lehsten, lebt mein Mann noch?“ schrie sie in den Hörer und es war ihr klar und gleichgültig zugleich, dass sie vermutlich klang wie eine Hysterikerin. „Ihr Mann lebt, sein Zustand ist wieder stabil, aber es wäre gut, wenn Sie so schnell wie möglich vorbeikämen“, sagte der Arzt und ließ sich nicht auf weitere Erklärungen ein. „Essen Sie vorher ein gesundes Frühstück, Sie brauchen jetzt alle Ihre Kräfte“, sagte er noch, bevor er auflegte.
In fliegender Hast, den Kopf voll überreizter Schreckensbilder, stieg Marion unter die Dusche und wäre am liebsten einfach dort geblieben. Was war passiert? Was hieß „wieder stabil“ bei einem Komapatienten? Ihr Handy klingelte, als sie sich eilig anzog – Jeans, Pullover, ausnahmsweise war es ihr völlig egal, wie sie aussah. Zitternd griff sie nach dem Gerät. Neue Hiobsbotschaften? Es war Ludwig. „Ich habe Sehnsucht nach dir, mein Schatz“, seine Stimme klang angestrengt, aber voller Liebe. „Ich bin im Auto und stehe vor deinem Haus. Ich muss dich sehen. Ich will dich spüren.“
Sie wusste, dass es unvernünftig war, aber auch ihre Sehnsucht war stärker als jede Vernunft. Sie verließ ihr Schlafzimmer und sagte zu Uschi, die ihr mit einem Frühstückstablett entgegen kam: „Ich will gleich ins Krankenhaus, Uschi, ich esse heute nichts.“ Ohne auf den Protest ihrer Haushälterin zu warten, in deren Vorstellungskraft es keine Momente gab, wo man nichts essen wollte, außer man lag im Sarg, lief Marion auf die Straße.
Die Wolken hingen tief an diesem trüben Morgen, die Menschen hatten ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen. Ludwig hatte direkt vor der Eingangspforte geparkt, was er sich als Freund des Hauses auch erlauben durfte. Als er sie sah, beugte er sich vor und öffnete die Beifahrertür. Sie schlüpfte in das Warme des Wageninneren, schnell, so als fürchte sie, von den Nachbarn gesehen zu werden. Was in diesem Fall nicht stimmte, denn nichts war ihr in diesem Moment gleichgültiger als die Meinung der anderen: „Küss mich“, flüsterte sie und sank in seine Arme.
Uschi stand am Fenster und sah, wie Marion von Lehsten in das Auto ihres Liebhabers stieg. Sie seufzte tief. Sie wusste von der Affäre, obwohl Marion sich die größte Mühe gegeben hatte, sie geheim zu halten. Aber sowie Hendrik morgens das Haus verlassen hatte, klingelte das Telefon, jeden Tag. Marion verschwand dann damit in ihrem Schlafzimmer und Uschi hörte sie laut lachen und leise seufzen. Wenn sie dann wieder auftauchte, hatten ihre Augen einen verräterischen Glanz. „Ich komm’ heute nicht zum Mittagessen, Uschi“, sagte sie, bevor sie in dem duftenden Schaumbad versank, das die Haushälterin ihr inzwischen eingelassen hatte.
Früher hatte Marion sie manchmal gerufen: „Kommen Sie rein, Uschi, ich fühl’ mich einsam.“ Dann hatte sie auf dem Badewannenrand gesessen und sie hatten geplaudert. Damals, als sie Hendrik noch liebte, hatten sie sich oft liebevoll über ihn lustig gemacht. Über die Lieder, die er unter der
Weitere Kostenlose Bücher