Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
wenn es Ihrer Anwältin recht ist.«
Karen Borg schob sich in einer Geste der Zustimmung die Haare hinters Ohr.
Als ein per Haustelefon herbeigerufener Polizeimeister hinter sich und
Halvorsrud die Tür geschlossen hatte, schien sie nicht aufstehen zu wollen.
»Ich habe dich lange nicht mehr gesehen«, sagte sie.
Hanne lächelte kurz und fing an, etwas zu speichern, was in ihrem Computer
gar nicht vorhanden war.
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»Zuviel zu tun. Gilt auch für Cecilie. Und ihr? Was machen die Kinder?«
»Denen geht's gut. Und dir?« »Geht schon.«
»Häkon sagt, daß dich etwas quält.« »Häkon sagt seltsame Dinge.«
»Und viele kluge. Er hat einen scharfen Blick. Das wissen wir beide.«
Ein halbes Jahr zuvor war Häkon Sand endlich zum Staatsanwalt befördert
worden. Das war erst spät geschehen, später als bei den meisten
Polizeijuristen. Aber Häkon Sand hatte durchgehalten und sich nach und nach
in den höheren Sphären der Anklagebehörden eine Art Respekt - wenn auch
nicht gerade Bewunderung — erarbeitet. Was nicht zuletzt an seiner
Zusammenarbeit mit Hanne Wilhelmsen und Billy T. gelegen hatte, die beide
energisch gegen den drohenden Verlust ihres polizeifreundlichsten Juristen
protestierten. Aber Häkon Sand konnte nicht mehr. Er hatte neun Jahre lang
im Gronlandsleiret 44 das Linoleum plattgetreten und grüne Ordner
gestemmt, bis er endlich Familienfotos und eine schöne Bronzestatue von
Frau Justizia in einen Pappkarton legen und zum CJ Hambros plass 2 B
übersiedeln konnte. Das war nur anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt. Aber
er war einfach verschwunden. Ab und zu rief er auf einen Plausch an, zuletzt
erst vor zwei Tagen. Er hatte ein Mittagessen vorgeschlagen. Aber Hanne hatte
keine Zeit. Sie hatte nie Zeit.
»Ich dachte, du wärst zur Rächerin der Schwachen und zur Freundin der
kleinen Leute geworden«, sagte Hanne trocken. »Was hat dich dazu gebracht,
den Fall Seiner Hochmütigen Hoheit Halvorsrud zu übernehmen?«
»Freund der Familie. Meines Bruders, genauer gesagt. Und du hast es ja selbst
gesagt: Es sieht nicht gut aus für Halvorsrud. Was ist eigentlich los mit dir,
Hanne?«
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»Nichts.«
Hanne versuchte wirklich zu lächeln. Sie zog die Mundwinkel nach oben und
wollte auch die Augen dabeihaben. Die füllten sich mit Wasser. Sie schaute aus
weitaufgerissenen Augen von einer Seite zur anderen und merkte, daß ihr
Lächeln zu einer Grimasse wurde, die etwas von dem verriet, worüber sie nicht
sprechen wollte. Worüber sie nicht sprechen konnte.
Karen Borg beugte sich über den Schreibtisch. Vorsichtig legte sie ihre Hand
auf Hannes. Hanne zog ihre Hand weg; eher als Reflex denn als Abfuhr.
»Es ist wirklich nichts.« Sie lachte, während ihr die Tränen kamen.
Karen Borg kannte Hanne Wilhelmsen seit 1992. Ihre Freundschaft hatte
einen recht dramatischen Anfang gehabt. Ein Mordfall hatte sie
zusammengeführt, der sich schließlich als politischer Skandal von seltenen
Dimensionen erwiesen hatte. Er hatte Karen Borg fast das Leben gekostet.
Häkon Sand hatte sie in letzter Sekunde aus einem brennenden Ferienhaus
retten können. Als die beiden später zusammengezogen waren und Kinder
bekommen hatten, waren Hanne und Cecilie zu engen Freundinnen von ihnen
geworden. Inzwischen waren sieben Jahre vergangen.
»Ich habe dich noch nie weinen sehen, Hanne.«
»Eigentlich weine ich auch gar nicht«, sagte Hanne und wischte sich die
Tränen ab. »Ich bin nur so kaputt. Müde irgendwie, die ganze Zeit.«
Draußen schneite es wieder. Verspielte große Flocken starben an der
Fensterscheibe, und Hanne wußte nicht so recht, ob die Schneeflocken oder
ihre Tränen die Umrisse im Park draußen zu einem unklaren grauen Bild ver-
schwimmen ließen.
»Ich wünschte, es würde bald Sommer«, flüsterte sie.
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»Warm. Wenn es nur ein wenig wärmer wird, dann wird alles besser.«
Karen Borg gab keine Antwort. Sie ahnte jedoch, daß nicht einmal die ärgste
Hitzewelle aller Zeiten Hanne Wilhelmsen helfen könnte. Dennoch mußte sie
jetzt auf die Uhr schauen. In einer Dreiviertelstunde machte der Kindergarten
Feierabend. Hanne schwieg noch immer, sie wippte nur rhythmisch in ihrem
Bürosessel hin und her und schnippte dabei mit den Fingern. Noch immer
bedeckte das aufgesetzte Lächeln wie eine Maske ihre untere Gesichtshälfte.
Noch immer strömten ihre Tränen.
»Dann bis bald«, sagte Karen Borg und erhob sich. »Bis morgen um zehn.«
Etwas tat weh, als sie
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