Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
konnte. Abgesehen von Sekunden und
flüchtigen Augenblicken.
Fünf Monate zuvor war an einem späten Donnerstagabend etwas zwischen
Hanne und Billy T. passiert. Wenn sie die Augen schloß, sah sie, wie er in ihre
Wohnung fiel, betrunken wie ein Abiturient im Mai. Das ganze Treppenhaus
mußte gehört haben, wie er glücklich brüllend verkündete, daß er die Mutter
seines demnächst erwarteten fünften Sohnes heiraten würde. Da er mit den
Müttern seiner ersten vier Söhne nie zusammengelebt hatte, bestand aller
Grund zum Feiern. Cecilie, seit fast zwanzig Jahren Hannes Lebensgefährtin,
hatte Billy T. mit starkem Kaffee, sanften Ermahnungen und von Herzen
kommenden Glückwünschen empfangen. Hanne dagegen war von einem halb
verletzten, halb beleidigten Gefühl, das seither nie wieder ganz verschwunden
war, zum Schweigen gebracht worden. Die
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Erkenntnis, was sie da im Grunde quälte, machte ihr viel mehr zu schaffen als
das Gefühl, etwas zu verlieren, von dem sie geglaubt hatte, es bis an ihr
Lebensende behalten zu können.
»Denkst du auch an die Rede?« fragte Billy T. plötzlich. »Die Rede?«
»Für die Hochzeit. Deine Rede. Denkst du an die?«
Die Hochzeit lag noch über drei Monate in der Zukunft. Hanne Wilhelmsen
sollte Trauzeugin sein und eine Rede halten, wußte aber nicht einmal, ob sie
überhaupt an der Trauung teilnehmen wollte.
»Sieh dir das an«, sagte sie statt dessen und warf ein Heft mit eingeklebten
Polaroidfotos über den Schreibtisch. »Vorsicht. Starke Szenen.«
Billy T. ließ das Dagbladet auf den Boden fallen und schlug das Heft auf. Er schnitt eine Grimasse, die ihn fremd aussehen ließ. Billy T. war älter
geworden. Seine Augen lagen tiefer in den Höhlen als früher, und die
Lachfältchen darunter konnten mit bösem Willen auch als Tränensäcke
gedeutet werden. Sein kahlrasierter Schädel war nicht mehr so auffällig; er
konnte auch einfach die Haare verloren haben. Sogar die Zähne, die zu sehen
waren, als er vor Entsetzen über die Bilder die Lippen straffte, zeigten, daß
Billy T. im Laufe des Sommers vierzig werden würde. Hanne ließ ihren Blick
von seinem Gesicht zu ihren eigenen Händen weiterwandern. Ihrer
wintertrockenen Haut half auch die Handcreme nicht, mit der sie sie dreimal
täglich einschmierte. Feine Furchen in den Handrücken erinnerten sie daran,
daß sie nur anderthalb Jahre jünger war als er.
»Oh, verdammt«, sagte Billy T. und schloß das Heft. »Ich habe heute morgen
bei der Besprechung davon gehört, aber das hier...«
»Übel«, sagte Hanne. »Er kann es selbst gewesen sein.« »Kaum«, sagte Billy
T. und rieb sich das Gesicht. »Nie
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mand kann mir einreden, daß Oberstaatsanwalt Halvorsrud mit einem
Samuraischwert bei seiner eigenen Frau Amok läuft. Verdammt, nein.«
»Rasche Schlußfolgerung, das muß ich schon sagen.«
Hanne Wilhelmsen kratzte sich gereizt am Hals. Billy T. war der achte Kollege,
der innerhalb eines Vierteltages und ohne irgendwelche Vorkenntnisse
bezüglich dieses Falles in der Schuldfrage überzeugt Stellung bezog.
»Natürlich kann er es getan haben«, sagte sie tonlos. »Ebenso kann er
natürlich die Wahrheit sagen und mit einer Schußwaffe bedroht worden sein
und deshalb wie gelähmt zugesehen haben, wie seine Frau von einem
Verrückten massakriert wurde. Who knows.«
Sie hätte gern hinzugefügt: And who cares. Noch ein Hinweis darauf, daß sie
sich von irgend etwas fortbewegte. Das Allerschlimmste war, daß sie nicht
wußte, wohin sie unterwegs war. Oder warum sich alles auf eine vage und un-
definierbare Weise zu verändern schien. Etwas war in ihr Leben getreten, das
dafür sorgte, daß sie es nicht mehr so richtig im Griff hatte. Oder daß sie
einfach nicht mehr wollte. Sie war schweigsamer als früher. Mürrischer, ohne
das wirklich zu wollen. Cecilie musterte sie jetzt immer forschend, wenn sie
sich unbeobachtet glaubte. Hanne mochte nicht einmal fragen, warum sie
dermaßen starrte.
Es wurde an die Tür geklopft, vier Mal und hart.
»Herein«, brüllte Billy T. und lächelte strahlend, als eine hochschwangere
Polizistin in das enge Arbeitszimmer watschelte. »Meine angehende Gattin
und mein ebensolcher Sohn!«
Er zog die Kollegin auf seinen Schoß.
»Hast du je einen schöneren Anblick gesehen, Hanne?«
Ohne auf Antwort zu warten, rieb er sein Gesicht am Bauch der Polizistin und
führte einen unverständlichen und gemurmelten Dialog mit dem Kind.
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»Es
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