Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
färbten es ganz schwach. Sie ließ das
bleichrosa Wasser immer wieder im Glas herumschwappen und versuchte,
sich den kommenden Sommer vorzustellen.
Cecilie hatte dem Mann mit den feuerroten Ohrläppchen nicht eine einzige
Frage gestellt. Damals und dort hatte es keine Fragen gegeben. Später hatte sie
vom Labor aus alle Datenbanken befragt, zu denen sie Zugang hatte. Und
dann war sie zu Fuß nach Hause gegangen und hatte dabei die ganze Zeit
geweint.
Eigentlich hatte sie es Hanne an diesem Abend sagen wollen.
Hanne wußte nichts. Auch an dem Morgen vor sechs Wochen, als Cecilie Blut
in ihrem Stuhl entdeckt hatte und zum ersten Mal bei dem Gedanken daran,
wie müde und lustlos sie sich seit langer Zeit schon fühlte, von eiskalter Angst erfüllt worden war, war Hanne zerstreut und unaufmerksam gewesen. Der
Schrecken über die Entdeckung auf dem Toilettenpapier, der Wunsch, es
möge sich um einen Irrtum handeln — vielleicht bekam sie ja einfach zu früh
und
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außer Plan ihre Tage —, hatte Cecilie so schnell wie möglich die Spülung
betätigen und sich danach mit übertriebener Energie die Zähne putzen lassen.
Es gab nichts, worüber es sich zu reden gelohnt hätte. Damals nicht. Sicher
war es falscher Alarm. Nur jede Menge unnötige Besorgnis, die Hanne nicht
registrierte, obwohl sie Cecilie wie ein Panzer umgab, als sie im Badezimmer
stand, nackt und für Hanne vollkommen sichtbar; sie sagte nicht einmal
»mach's gut«, als sie ging.
Und dann war es doch kein falscher Alarm.
Hanne war zum Umfallen müde gewesen, als sie um Viertel vor acht nach
Hause gekommen war. Ausnahmsweise einmal hatte sie geredet wie ein
Wasserfall, vielleicht, um bis zum Essen wachbleiben zu können. Hanne
plapperte drauflos, über eine kopflose Leiche, einen Mann, der ins Meer
gesprungen war, und einen Staatsanwalt, der sich auf etliche Jahre hinter
schwedischen Gardinen gefaßt machen mußte. Uber mutterlose Jugendliche
deren Vater im Gefängnis saß, über Billy T , der sich aufs Unerträglichste auf
seine näherrückende Hochzeit freute. Uber das neue Arbeitszimmer, an das
Hanne sich einfach nicht gewöhnen konnte, und über den neuen Auspuff für
die Harley der noch immer nicht geliefert worden war.
Für die Geschichte eines Tennisballs mit bedrohlichen Fangarmen, der
irgendwo in Cecilies Bauch lag, war kein Platz gewesen. An diesem kurzen,
kalten Frühlingsabend hatte es für Cecilie überhaupt keinen Platz gegeben.
Hanne schnarchte leise.
Plötzlich wimmerte sie und drehte sich um, so daß Cecilie ihr Gesicht sah, mit
offenem Mund, halb nach oben gekehrt. Das rechte Bein legte sie über den
Sofarücken, der linke Arm hing kraftlos zu Boden. Es sah schrecklich unbe-
quem aus, und Cecilie legte Hannes Arm behutsam wieder aufs Polster. Dann
goß sie sich mehr Wasser ein.
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Hannes Pony war zu lang und verbarg das eine Auge. Die braunen Haare
hatten einen leichten Anflug von Grau bekommen, und Cecilie konnte nicht
verstehen, warum ihr das erst jetzt auffiel. Das Lid des sichtbaren Auges
zuckte immer wieder ganz leicht und zeugte davon, daß Hanne träumte. Der
eine Mundwinkel füllte sich mit Speichel, und langsam breitete sich auf dem
Kissen unter ihrer Wange ein dunkler Fleck aus.
»Du siehst so klein aus«, flüsterte Cecilie. »Ich wünschte, du könntest ein
bißchen häufiger klein sein.«
Die Türklingel ertönte.
Cecilie zuckte zusammen. Hanne Wilhelmsen rührte sich nicht. Aus Angst vor
weiterem Klingeln stürzte Cecilie in die Diele und riß die Wohnungstür auf.
»Billy T«, rief sie und merkte, daß sie sehr lange keine solch unmittelbare,
schlichte Freude über den Anblick eines anderen Menschen verspürt hatte.
»Komm rein!«
Dann legte sie mahnend den Zeigefinger an die Lippen.
»Hanne ist auf dem Sofa eingeschlafen. Wir können uns in die Küche setzen.«
Billy T. warf einen Blick ins Wohnzimmer.
»Nein«, sagte er energisch, ging ins Zimmer und schob den Couchtisch
beiseite, um besseren Zugriff zu haben.
Dann hob Billy T. Hanne Wilhelmsen hoch wie ein Kind, das bei einem
verbotenen Fernsehkrimi eingeschlafen ist. Ihr Gewicht fühlte sich an seinem
Brustkasten wunderbar an. Der leichte Weingeruch aus ihrem Mund mischte
sich mit schon einen Tag zuvor versprühtem Parfüm und veranlaßte ihn, sie
ganz spontan auf die Stirn zu küssen. Cecilie öffnete die Türen, und Billy T.
konnte Hanne aufs Bett legen, ohne daß sie Anstalten gemacht hätte, zu
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