Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
empfunden. Sie hatte sich von dem Tag an, an dem sie alt genug
gewesen war, um selbständig zu denken, als Außenseiterin gefühlt. Früher
vermutlich auch. Mit acht hatte sie den Frühling mit dem Bau eines Baum-
hauses ganz hinten im großen Obstgarten verbracht. Der Nachbar — ein über
siebzig Jahre alter Handwerker, der jeden Samstag Speck briet und ihn mit
dem Mädchen in der blauen Latzhose teilte — hatte ihr ab und zu mit Nägeln
und einer helfenden Hand unter die Arme gegriffen. Es wurde ein großartiges
Haus, mit echten Fenstern, die früher in einen Omnibus gehört hatten. Hanne
legte alte Flickenteppiche auf den Boden und hängte ein Bild von König Olav
an die Wand. Das Gefühl, etwas zu haben, das nur ihr gehörte — und worauf
die übrigen Familienmitglieder höchstens einen gleichgültigen Blick warfen —,
hatte ihr zum ersten Mal zu der Erkenntnis verholfen, daß sie allein am
stärksten war. Seither hatte sie sich mehr oder weniger aus dem
akademischen, verstaubten Zuhause abgemeldet, wo die Eltern nicht einmal
einen Fernseher an
87
schaffen wollten, denn »es gibt doch so viele gute Bücher, Hanne«.
Die Zeugin ist schockiert über den brutalen Mord an ihrer Freundin, glaubt
aber nicht, daß der Beschuldigte diesen begangen haben kann. Die Zeugin
hat ihn als rücksichtsvollen Ehemann und Vater kennengelernt, obwohl er
natürlich auch »seine Seiten« hatte, auf die die Zeugin indes nicht näher
eingehen will. Die Zeugin verfügt über keine weiteren Informationen, die für den Fall von Bedeutung sein könnten.
Das Protokoll war auf allen Seiten signiert und unten auf der letzten Seite
unterschrieben, wie es sich gehörte.
»Ein Durchschnittsleben«, sagte Hanne halblaut zu sich und legte die Mappe
beiseite. »Netter Mann, wohlgeratene Kinder, ab und zu ein kleiner Streit.«
Der Kaffee wurde jetzt kalt, und sie leerte die Tasse mit einem Schluck. Der
scharfe Nachgeschmack blieb an ihrer Zunge haften, und sie konnte den
sauren Weg der Flüssigkeit bis zu ihrem Magen verfolgen, der sich, wenn sie
von dem dumpfen Schmerz hinter dem Brustbein ausgehen durfte, ein
besseres Frühstück wünschte als Zigaretten und schwarzen Kaffee.
Hanne sollte jetzt im Krankenhaus sein. Sie würde gehen. Bald.
Auch der von Karl Sommaroy stammende Stapel war ordentlich und
übersichtlich. Auf den Deckel war mit Filzstift »Stäle Salvesen« geschrieben,
in steiler Linkshänderschrift. Oben lagen die alten Papiere, eingeholt von Fi-
nanzamt und Einwohnermeldeamt. Die Steuerauskünfte reichten zehn Jahre
in der Zeit zurück und zeigten, daß Salvesen noch 1990 über acht Millionen
Kronen verdient hatte. Dann folgte eine uninteressante, kurze Liste über
derzeitiges Inventar und Besitz. Außerdem gab es Zeitungsartikel aus der Zeit,
als Stäle Salvesens Schicksal sich ins Gegenteil verkehrt hatte. Hanne überflog
alles, fand
88
aber nichts, was sie noch nicht gewußt hätte. Sie überlegte sich, daß die Artikel ausführlicher, größer und wesentlich dramatischer waren, als es bei einer
Untersuchung, die schließlich eingestellt worden war, zu erwarten gewesen
wäre.
»What eise is new«, seufzte sie.
Ein Foto aus dem Jahre 1989 erweckte dann ihr Interesse.
Stäle Salvesen war nicht gerade ein Adonis, aber das Bild zeigte einen Mann
mit starkem Blick und frechem, schrägem Lächeln. Die Augen schauten direkt
in die Kamera, und Hanne schauderte, als sie sah, wie lebendig das Gesicht
wirkte. Salvesen hatte schüttere, nach hinten gekämmte Haare und eine hohe
Stirn, und man konnte im breiten Kinn den Schatten eines Grübchens
erahnen. Das Foto endete in Brusthöhe, vermittelte aber trotzdem den
Eindruck von diskreter, teurer Kleidung. Das Jackett war dunkel, und sogar
auf dem schwarzweißen Zeitungsbild war zu erkennen, daß das Hemd unter
dem gestreiften Schlips schneeweiß war.
Dann folgte Sommaroys Bericht.
Was Stäle Salvesens finanzielle Vergangenheit angeht, so verweisen wir auf
die beigefügten Zeitungsartikel und Steuerunterlagen. Offenkundig hatte er
große Summen in Händen, doch hat er — nachdem er aufgrund der
Ermittlungen gegen ihn die Firma Aurora Data verlassen mußte — große
finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Ich nehme an, daß sehr viel Arbeit
nötig wäre, um den Verbleib des Geldes zu ermitteln. Damit warte ich, bis
eine entsprechende Anweisung erteilt wird. Tatsache ist, daß er heute kei-
nerlei wertvolle Besitztümer hat. Die
Weitere Kostenlose Bücher