Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Wohnung ist gemietet. Sein Wagen, ein
Honda Civic, Baujahr 1984, ist kaum den Schrottpreis wert.
Salvesen hat offenbar während der letzten Jahre stark zurückgezogengelebt.
Er wurde 1994 nach einjähriger Trennung geschieden. Wir haben noch nicht
mit seiner Frau sprechen können. Sie ist 10,0,5
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nach Australien ausgewandert, und die Erkundigungen der norwegischen
Botschaft in Canberra lassen annehmen, daß sie diese Stadt inzwischen
wieder verlassen hat. Ich versuche weiterhin, sie ausfindig zu machen. Sie
kann ihren Namen geändert und vielleicht auch die australische
Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ihr Sohn, Frede Parr (er hat den
Nachnamen seiner amerikanischen Ehefrau angenommen), lebt in Houston,
Texas, wo er als Computerfachmann bei einer Ölgesellschaft arbeitet. Ich
habe am Montag, dem 8. März ¡999, um 17.30 norwegischer Zeit, ein
Telefongespräch mit ihm geführt. Er schien sich über diese Störung zu
ärgern, und der mögliche Selbstmord seines Vaters macht ihm merkwürdig
wenig zu schaffen. Er behauptet, schon sehr lange nicht mehr mit seinem
Vater gesprochen zu haben, vielleicht seit 1993 nicht mehr, genau weiß er das nicht. Von seiner Mutter hat er seit zwei Jahren nichts mehr gehört. Diesen
Zeitpunkt konnte er genauer angeben, weil er sie am 23. März 1997
angerufen hat, um ihr die Geburt seines zweiten Sohnes mitzuteilen. Damals
lebte Frau Salvesen in Alice, Australien. Frede Parr hat ihre Telefonnummer
nicht mehr und weiß nicht, ob Seine Mutter sich weiterhin Salvesen nennt.
Auf meine Frage, ob er seinem Vater einen Selbstmord zutraue, antwortete er
fast wortwörtlich: »Es ist seltsam, daß er das nicht schon vor vielen Jahren gemacht hat. Er hatte ein vergeudetest Leben. Er war ein vergeudeter
Mensch.«
Unsere Untersuchungen weisen ansonsten darauf hin, daß Salvesen keinerlei
soziales Umfeld hatte, mit einer Ausnahme (siehe unten). Keiner der
Nachbarn in seiner Etage hat ihn gekannt, obwohl er schon im Dezember
1995 in diese Wohnung eingezogen ist. Auf dem Sozialamt war zu erfahren,
daß er bei den wenigen Malen, die er dort auftauchen mußte, um seine
Frührente zu beantragen, kaum je ein Wort gesagt hat. In Verbindung mit
dem Rentenantrag wurde eine Sozialanamnese von Salvesen erstellt, aus der
hervorgeht, daß er fast immer allein war. Von irgendwelchen Hobbies ist
nichts bekannt, nichts weist auf den Konsum von Alkohol oder anderen
Rauschmitteln hin.
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Im Mietshaus in der Vogts gate gibt es einen Hausmeister. Ole Monrad
Karisen ist über siebzig Jahre alt und bekleidet diese Stellung noch immer,
weil es offenbar niemand übers Herz bringt, ihn aus seiner Dienstwohnung
zu vertreiben. Zwei Nachbarn können bezeugen, daß sie Salvesen mehrmals
in der Hausmeisterwohnung haben aus- und eingehen sehen. Ich habe am
Dienstag, dem 9. März 1999, um 18.00 mit Karisen gesprochen.
Hausmeister Karisen war äußerst abweisend, fast wütend. Er wollte nicht
mit mir sprechen. Er schlug die Tür zu, als ich sagte, daß ich von der Polizei käme, und erst nachdem wir zehn Minuten lang durch die verschlossene Tür
diskutiert hatten, war er zu einem kurzen Gespräch bereit. Das brachte
jedoch nichts Neues. Trotzdem besteht Grund zu der Annahme, daß Karisen
und Salvesen eine Art Freunde waren. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte er Tränen in den Augen, und seine Mundwinkel zitterten ein wenig, als ich
erzählte, daß Salvesen aller Wahrscheinlichkeit tot sei. Er hielt danach den Mund, nachdem er mich viele Minuten lang ununterbrochen angepöbelt
hatte.
Hanne ließ sich im Sessel zurücksinken und schloß die Augen.
Hier gab es etwas.
Es gab ein Muster oder vielleicht eher einen Faden. Der war dünn und nur
schwer zu entdecken. Die Geräusche hinter ihrer Zimmertür waren jetzt
lauter, die Uhr ging schließlich auf neun zu. Das störte sie, sie verlor den
Überblick.
»Australien«, flüsterte sie. »Texas. Die Vogts gate. Ein Papakind. Ein
scheinheiliger Oberstaatsanwalt.«
Plötzlich brachen heftige Kopfschmerzen über sie herein. Sie faßte sich an die
Schläfen, ihre Ohren rauschten wie wild, und sie stöhnte: »Ulleväl.«
Es wurde an die Tür geklopft. Hanne gab keine Antwort. Es wurde noch
einmal geklopft. Als sich die Tür unaufgefordert öffnete, hatte Hanne gerade
die Jacke angezogen.
»Hab keine Zeit«, sagte sie kurz zu Karianne Holbeck
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und drängte sich an ihr vorbei. »Ich bin in zwei oder drei Stunden
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