Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
machte sich an die Rückfahrt. Zwanzig Minuten fuhren sie
schweigend dahin. Als sie auf der E 18 an der Kirche von Hovik vorbeikamen,
sagte Hanne: »Da war etwas in Stäle Salvesens Wohnung. Ich habe etwas
gesehen, was mir zu schaffen macht. Nur komme ich einfach nicht darauf, was
das gewesen sein kann.«
Sie kratzte sich an der Nase und musterte die Tankuhr. Bis nach Hause sollte
das Benzin wohl noch reichen.
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»Wenn es wichtig war, dann fällt es dir wieder ein. Du mußt im Moment ja
auch noch an vieles andere denken.«
Billy T. sah Hanne an. Er hätte ihr gern die Hand auf den Oberschenkel gelegt,
was er unter anderen Umständen auf jeden Fall gemacht hätte. Wenn alles
noch so gewesen wäre wie früher.
Aber nichts war so wie früher. Auf dieser Fahrt hatte Hanne zwar etwas von
ihrem alten Ich gezeigt. Sie war ihm mehrere Male körperlich nahegekommen,
und ihr Tonfall hatte etwas von der alten Vertraulichkeit gehabt, von der er so
abhängig war und die er so sehr zu verlieren fürchtete. Aber trotzdem war
etwas anders. Hanne war immer konzentriert. Immer von ihren Fällen in
Anspruch genommen. Immer reflektierend, interessiert an der Meinung
anderer. Aber jetzt hatte ihre Ausrichtung auf den Fall eine Stärke
angenommen, die an Fanatismus grenzte. Das Manöver oben auf der Staure-
Brücke war tollkühn und absolut unnötig gewesen. Sie hätten Hannes Theorie
auch ohne Lebensgefahr überprüfen können. Ihm war außerdem aufgefallen,
daß sie jetzt langsamer sprach als früher und oft eher mit sich selbst zu reden
schien als mit anderen.
»Genau da irrt ihr euch allesamt«, sagte Hanne Wilhelmsen plötzlich, als sie
vom Verteilerkreis bei Bjorvika abbogen.
»Was?«
Billy T. hatte vergessen, was er einige Minuten früher gesagt hatte.
»Ihr glaubt, ich müßte an soviel anderes denken«, sagte Hanne. »Aber
Tatsache ist, daß dieser Fall das einzige ist, woran ich denke. Ich denke an gar nichts anderes. Jedenfalls nicht im Dienst. Bestell Tone-Marit einen schönen
Gruß.«
Sie hielt vor dem Haupteingang des Polizeigebäudes. Billy T. zögerte mit dem
Aussteigen. Dann löste er den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür.
»Nur noch eins, Hanne«, sagte er langsam. »Du riechst
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ganz grauenhaft schrecklich. Fahr nach Hause und geh unter die Dusche. Puh,
du stinkst vielleicht!«
Als er mit der Tür knallte, wäre fast das Polizeiabzeichen von der
Windschutzscheibe gefallen, und Hanne hatte für den Rest des Abends
Ohrensausen.
36
Es war Freitag, der 12. März. Es war Nachmittag, und eine schwere
Wolkendecke hing über der schwedischen Hauptstadt. Lars Erik Larsson
fischte eine Plastiktüte aus seiner abgegriffenen Aktentasche. Er strich sie so
glatt wie möglich und legte sie auf eine Holzbank. Im Freilichtmuseum Skan-
sen war an diesem Tag nicht viel los. Larsson war eben über den neuen
Bärenberg gegangen, ohne auch nur den Schatten eines Bären zu sehen.
Vielleicht hielten die ja noch Winterschlaf.
Eigentlich hatte er nach Djurgärden gewollt, Stockholms wundervollen
Hintergarten. Vielleicht sogar bis an die Westspitze der schönen Insel, nach
Plommonbacken, wo er den Bus zurück in die Innenstadt nehmen konnte,
wenn er nicht mehr weitergehen wollte. Aber jetzt hing Regen in der Luft. Als
er am Nordiska Museum vorbeigekommen war, hatten die grauschwarzen
Wolken über Södermalm ihn dazu gebracht, sich die Sache zu überlegen. Er
hatte seine sechzig Kronen Eintritt bezahlt und anschließend eine großzügige
Runde durch Skansen gedreht.
Zufrieden setzte er sich und zog ein ordentlich eingewickeltes Butterbrot mit
Käse und Paprika hervor. Der Kaffee in der Thermosflasche war glühendheiß,
und der Dampf tat seinem Gesicht gut. Nachdenklich starrte er nach Djur-
gärdsbrunnviken hinüber. Er konnte den Kaknästurm ge
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rade noch erkennen; seine Spitze gab sich alle Mühe, die Wolkendecke oben zu
halten.
Lars Erik Larsson war ein zufriedener Mann. Er lebte zwar ein stilles Leben
und hatte keine Frau mehr gehabt, seit seine Gattin ihn 1985 verlassen hatte.
Aber er wurde bald fünfundsechzig und fühlte sich von seiner Arbeit und
seinen beiden Enkelkindern durchaus ausgefüllt. Wenn er in nicht allzuferner
Zukunft pensioniert würde, wollte er in die Kate in Osthammar ziehen,
Blumen züchten und ab und zu eine Handvoll gute, alte Freunde zu Besuch
haben.
In aller Ruhe aß er sein Brot. Nur ein ausländisches Paar - wenn er sich nicht
ganz
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