Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
band
sich den Schal um. Es gab nichts, was er tun konnte. Er konnte nur warten.
Noch ein halbes Jahr.
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Die Osloer Wache hatte ihren Namen geändert. Als Teil einer endlosen Reihe
von Neuerungen sollte das langgestreckte, graue und schwere Gebäude am
Gronlandsleiret 44 jetzt Polizeidistrikt Oslo heißen. Niemand wußte so recht,
warum. Nachdem die ländlichen Polizeistellen kürzlich der Stadtpolizei
unterstellt worden waren und alle gutmütigen Dorfsheriffs jetzt Urbane
Kommissare mit Jurastudium und Lametta auf den Schultern über sich
hatten, gab es in Norwegen keine Wachen mehr.
Der Namenswechsel hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Der
Polizeidistrikt Oslo schien sich weiterhin in seiner Umgebung so unwohl zu
fühlen, wie es bei der Wache auch immer der Fall gewesen war. Im Osten lag
das Kreisgefängnis, das alte Bußgefängnis, dem Zeit und staatliche
Bewilligungen längst davongelaufen waren. Im Westen ragte die Gronland-
Kirche auf und wartete trotzig und geduldig auf Besuch, in einem Stadtteil, in
dem die Hälfte der Einwohner aus Muslimen bestand, während die andere
Hälfte seit ihrer Taufe wohl kaum noch ein Gotteshaus von innen gesehen
hatte. Der Optimismus, der ansonsten die Umgebung prägte und die
Wohnungspreise im alten Oslo innerhalb von zwei Jahren verdoppelt hatte,
hatte niemals die Höhenzüge erreicht, auf denen der Polizeidistrikt Oslo lag,
mit dem Äkebergvei wie ein Katzenfell im Kreuz.
»Eine Wache ist und bleibt eine Wache«, sagte Hanne Wilhelmsen energisch
und warf einen Ordner in eine Ecke. »Seit ich bei der Polizei angefangen habe,
ist dieses Haus schon zigmal umorganisiert worden. Faß die nicht an!«
Sie schlug nach dem Mann, der sich über sie beugte und
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schon vier Schokobananen aus einer blauen Emailleschale auf dem
Schreibtisch geschnappt hatte. Der Mann nahm sich noch drei.
»Billy T.«, sagte Hanne wütend und versetzte ihm einen knallenden Klaps auf
den Hintern seiner engsitzenden Jeans. »Laß das, hab ich gesagt. Außerdem
wirst du langsam fett. Schweinemäßig fett!«
»Wohlseinszulage«, grinste Billy T. und klopfte sich auf den Bauch, ehe er im
Besuchersessel Platz nahm. »Krieg im Moment verdammt viel gutes Essen.«
»Was ganz einfach bedeutet, daß du Lebensmittel zu dir nimmst«, sagte
Hanne säuerlich. »Statt des Drecks, von dem du gelebt hast, seit ich dich
kenne. Übrigens habe ich viel zu tun.«
Sie warf einen auffordernden Blick hinüber zur Tür, die er eben erst krachend
ins Schloß gezogen hatte.
»Macht nichts«, lachte Billy T. und schnappte sich das Dagbladet, das in einem Regal unter einem überfüllten Aschenbecher lag. »Ich warte.
Verdammt, du rauchst ja wieder!«
»Durchaus nicht«, sagte Hanne. »Daß ich ab und zu eine Zigarette
konsumiere, heißt noch lange nicht, daß ich rauche.«
»Ab und zu«, murmelte Billy T, der sich bereits in einen Artikel über die neuen
Motorradmodelle dieses Frühlings vertieft hatte. »Das bedeutet zweimal im
Monat oder so. Sind das also die gesammelten Kippen vom letzten Jahr?«
Hanne Wilhelmsen gab keine Antwort.
Der Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtischs in der Zeitung las und
dabei zerstreut in der Nase bohrte, kam ihr größer vor denn je. Billy T hatte
schon mit achtzehn auf Socken zweinullzwei gemessen. Schlank war er nie
gewesen. Jetzt war er fast vierzig und hatte im vergangenen halben Jahr sicher
zwanzig Kilo zugenommen. Und dieses zu
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sätzliche Gewicht schien auch seine Körpergröße zu beeinflussen. Noch im
Sitzen schien seine Gestalt weder Anfang noch Ende zu haben. Er füllte den
Raum mit etwas, das Hanne nicht so recht begreifen konnte.
Hanne blätterte in einem zerfledderten Lehrbuch über Strafrecht und gab vor
zu lesen, während sie heimlich durch ihren Pony Billy T. beobachtete. Sie
sollte sich die Haare schneiden lassen. Er sollte abnehmen.
Hanne Wilhelmsen hatte längst den Versuch aufgegeben, ihre Beziehung zu
Billy T. begreifen zu wollen. Er war einwandfrei ihr bester Kumpel. Im Laufe
der Jahre hatten sie eine Umgangsform entwickelt wie ein symbiotisches altes
Ehepaar; einen leicht zänkischen, spöttischen Tonfall, der sofort verschwand,
wenn die eine Seite begriff, daß das Gegenüber die Sache ernst meinte. Hanne
ertappte sich bei der Frage, wie vertraut sie einander eigentlich waren. Wäh-
rend der letzten Monate überlegte sie immer häufiger, ob sie überhaupt einem
anderen Menschen vertraut sein
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