Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Annmari Skar wandern, dann ließ er ihn auf Halvorsrud
ruhen, der sich noch immer eine Hand vors Gesicht hielt.
»Streichen Sie >indessen<«, sagte Richter Bugge. »Schreiben Sie: Der
Angeklagte beantragt Haftersatz entsprechend Paragraph 184, Abschnitt 5,
Strafgesetzbuch, sowie Paragraph 174. Das Gericht möchte folgendes
anmerken: Es steht fest, daß die Tochter des Angeklagten, Thea Flo
Halvorsrud, geb. 10. 02. 83, ernstlich krank ist. Das von Prof. Dr. med. 0ystein Glück, Oberarzt der Psychiatrischen Abteilung im Ulleväl-Krankenhaus am 22.
03. 99 unterzeichnete Attest belegt, daß Thea seit fast drei Wochen keine
Nahrung mehr zu sich genommen hat. Sie erlitt vor einigen Tagen einen
psychotischen Zusammenbruch und wurde in eine Klinik eingewiesen. Ihre
Krankheit wurde vermutlich ausgelöst durch das Trauma, das durch den Tod
ihrer Mutter und die Haft ihres Vaters entstanden ist. Professor Glück betont,
das Beste für das Kind wäre zweifellos - der Richter tippte mit einem stumpfen
Zeigefinger gegen den Bildschirm, »unterstreichen Sie >zweifellos< - die
baldige Zusammenführung mit dem Vater. Ansonsten ist die psychische und
physische Gesundheit des Mädchens ernsthaft gefährdet.«
Halvorsrud hatte den Kopf gehoben. Jetzt starrte er den Richter mit
halboffenem Mund an. Seine Hände lagen flach vor ihm auf dem Tisch. Billy T.
konnte sehen, daß der linke kleine Finger ein wenig zitterte.
»Der Angeklagte fuhrt außerdem an, daß auch sein eigener
Gesundheitszustand Haftverschonung mit Meldepflicht oder eine andere
Form von Haftersatz angeraten erscheinen läßt. Das Gericht ist nicht der
Meinung, daß ein Magengeschwür, das zumindest teilweise durch die Haft
verursacht worden ist, den Angeklagten in eine andere Lage bringt, als alle
anderen, die eine Untersuchungshaft durchstehen müs
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sen. Das Gericht möchte betonen, daß der Angeklagte ausreichend ärztlich
betreut wird. Dennoch erscheint die Rücksicht auf die Tochter des
Angeklagten so schwerwiegend, daß sie im Vergleich mit den übrigen
Aspekten des Falles die Entlassung rechtfertigt. Deshalb sieht das Gericht
keinen Grund, genauer auf die Berufung der Polizei auf Paragraph 172
einzugehen.« »Was?«
Annmari Skar fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare und umfaßte
ihr Kinn mit der linken. Einen Moment lang starrte sie Billy T. an, dann
klappte sie laut hörbar ihren Mund zu.
Richter Bugge bedachte diesen Ausbruch mit einem Grinsen und sagte dann,
wobei er in seinen Unterlagen herumwühlte: »Die Haftalternativen gemäß
Paragraph 188 Strafgesetzordnung erscheinen unter diesen Umständen als
ausreichend. Folglich wird Sigurd Harald Halvorsrud mit der Auflage, sich
täglich bei der nächstgelegenen Wache zu melden, aus der Haft entlassen. Des
weiteren wird die Polizei gebeten, den Paß des Angeklagten einzuziehen.
Polizeianwältin Skar?«
Richter Bugge lächelte die Juristin an. Sein Lächeln wirkte ebenso absurd wie
seine übrige Erscheinung; ein feuchter Zug um die Mundwinkel, der die
Eckzähne entblößte und die Äuglein unter den Stirnwülsten verschwinden
ließ.
»Die Polizei erhebt Einspruch«, sagte Annmari Skar laut. »Und wir bitten
außerdem um Aufschub.«
Das Lächeln des Richters verschwand. Er saß da wie erstarrt, die Hände voller
Papiere und den Blick steif auf die Polizeianwältin gerichtet.
»Wissen Sie«, sagte er plötzlich, als das Schweigen gerade drückend wurde.
»Ich glaube, ich bin nicht in der Stimmung, Ihnen das zu gewähren. Wenn Sie
zugehört hät
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ten, als ich mein Urteil diktiert habe, dann wäre Ihnen aufgegangen, daß es um
die Tochter des Angeklagten sehr schlimm steht. Ihr Einspruch wird am
kommenden Montag zur Verhandlung kommen. Es wäre mir lieb, wenn die
junge Frau Halvorsrud das Wochenende zusammen mit ihrem Vater zu Hause
verbringen könnte. Können wir ansonsten mit einem schriftlichen Antrag
rechnen?« »Ich. . . «
Annmari Skar war eine tüchtige Anwältin. Anders als die meisten ihrer
Kolleginnen und Kollegen, die im Laufe der Zeit ein Jurastudium ablegten,
hatte sie ein glänzendes Staatsexamen vorzuweisen. Sie war gründlich und
klar. Noch nie war ihr ein Aufschub verweigert worden. Sie hatte nicht einmal
von einer solchen Möglichkeit gehört. Einen Aufschub zu erlangen war reine
Routine: Selbst wenn die von der Polizei beantragte Haft nicht verhängt
wurde, dann geschah dennoch nichts, solange das zuständige Gericht
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