Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Bromo bog hinter der Abfahrt zum Ibsen-Tunnel nach rechts. Als er an
der Bibliothek vorbeikam, konnte er nicht mehr. Sein Puls schlug
beunruhigend schnell, obwohl er nicht gelaufen war. Im Gegenteil, seit er die
Zeitung verlassen hatte, war er immer langsamer geworden. Ohne einen
wirklichen Entschluß zu fassen, setzte er sich auf die Steintreppe. Die Kälte
jagte seinen Rücken hoch, und er fröstelte. Dann riß er das Päckchen auf.
Es enthielt eine CD.
Musik?
Evald Bromo war ungeheuer erleichtert. Es war wie ein Rausch, sein Kopf
fühlte sich leicht und warm an, sein Blick trübte sich, sein Atem ging flach.
Jemand hatte ihm eine CD geschickt. Das Cover war zwar ganz weiß, doch als
er es öffnete, sah er eine ganz normale CD. So, wie er es erwartet hatte.
Und ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Er hielt es einige Sekunden lang in der Hand, dann faltete er es langsam
auseinander. Es war übersät von winzigen Buchstaben. Er kniff die Augen
zusammen und versuchte, die dichtbeschriebenen Zeilen zu entziffern.
Als er den langen Brief zweimal gelesen hatte, faltete er ihn langsam
zusammen. Es fiel ihm nicht leicht, ihn dann wieder im engen Cover zu
verstauen, aber endlich klappte es doch. Mehr als eine halbe Stunde saß er
dann noch auf der Treppe der alten Osloer Zentralbücherei. Er war allein. Er
wurde in Ruhe gelassen. Auch vier junge Männer von vielleicht zwanzig
würdigten ihn nur eines kurzen Blickes und einiger frecher Sprüche, als sie
grölend vorübertorkelten. Evald Bromo schloß die Augen. Der Inhalt des
Briefes war so überraschend, so sensationell und so katastrophal, daß er in
vieler Hinsicht Erleichterung empfand.
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Er erhob sich langsam, steckte die CD in die Innentasche seiner Lederjacke,
holte tief Atem und wußte, daß er das Ende seines Weges erreicht hatte. Ihn
überkam eine seltsame leere Ruhe. Er wußte, was er zu tun hatte. Er würde
sich ein wenig sammeln, zwei Tage vielleicht, und dann mit Kai reden.
Kai konnte ihm helfen.
Kai hatte ihm schon früher geholfen und Kai würde wissen, wie Evald mit den
soeben erhaltenen Auskünften umgehen sollte.
2
»Das Türschild ist schön«, Cecilie lächelte.
Hanne zuckte verlegen mit den Schultern.
»Es sieht ein bißchen blöd aus mit dem blassen Rand drumherum«, sagte sie.
»Das alte war ein bißchen größer. Ich hätte es ausmessen sollen, ehe ich das
neue bestellt habe.«
»Cecilie Vibe & Hanne Wilhelmsen« teilte das neue Messingschild an der
Wohnungstür mit. Hanne hatte schon befürchtet, Cecilie habe es nicht
gesehen. Sie hatte nichts gesagt, seit sie aus dem Krankenhaus nach Hause
gekommen war. Und das war jetzt vier Tage her.
»Woran denkst du?« fragte Cecilie.
Sie hatten am frühen Morgen einen kleinen Spaziergang durch die
Nachbarschaft gemacht. Cecilie wurde müde und sagte nicht mehr viel. Aber
sie lehnte sich im Gehen an Hanne und nahm ihre Hand, als sie zwanzig
Minuten später ihr Haus erreichten und die steilen Treppen hochgehen
mußten. Jetzt lag sie mit einer Decke und einer Tasse Tee auf dem Sofa.
Hanne saß ihr gegenüber im Sessel und spielte mit einem Apfel.
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»An das Türschild«, sagte Hanne. »Es ist schön. Irgendwie elegant. Schöne
Schrift.« »Ich meine nicht unseres, sondern das, das wir zu Hause hatten. Bei
meinen Eltern.« »Ach.«
Cecilie versuchte, die Tasse auf den Couchtisch zu stellen. Ihre Hand zitterte,
und alles floß auf den Boden. Hanne lief in die Küche, um Papier zum
Aufwischen zu holen. Als sie zurückkam, blieb sie mit dem Papier in der Hand
stehen und schaute zu, wie das Sonnenlicht sich einen Weg durch die
Balkonmarkise suchte.
»Ich war nicht dabei. Meine Eltern und meine beiden Geschwister hatten ihre
Namen auf dem Schild. Oben stand der von meinem Vater. Dann der meiner
Mutter. Darunter Inger und Kaare, in kleinerer Schrift. Ich war überhaupt
nicht erwähnt.«
»Aber du — du hast doch auch da gewohnt?«
»Ich war doch ein Nachzügler. Das Schild war schon da. Als ich dazukam,
meine ich. Für einen weiteren Namen war kein Platz mehr. Und offenbar kam
niemand auf die Idee, ein neues zu besorgen. Das Seltsame ist. . . «
Sie ging in die Knie und wischte den Tee mit harten, wütenden Bewegungen
auf.
»Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich kann mich nicht erinnern, daß es mir
etwas ausgemacht hätte. Damals, meine ich. Erst, als ich unser neues bestellt
habe, ist mir aufgegangen, daß es eigentlich. . . doch ein wenig
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