Holunderliebe
nicht jeder Schritt und jede Tat bereits bei Gott in einem Buch vorherbestimmt waren, gefiel ihm. Allein die Möglichkeit, dass sich auch nur ein Körnchen Wahrheit in dieser Ansicht verbergen könnte, machte seine Gedanken freier.
»Ich weiß es nicht.« Walahfrid senkte seine Stimme, als befürchtete er, dass ihm jemand zuhören könne, für den diese Worte nicht gedacht waren. »Man könnte ihn zwingen, die Profess abzulegen, und ihn dann zu einem einfachen Dienst im Kloster einteilen, der seinen Geist mit Untätigkeit quält. Oder schlimmer noch: Das Kirchengericht könnte eine Strafe für ihn erwägen. Kerker oder gar Exkommunizierung. Schmerzhafte Befragungen. Es kommt darauf an, wen Gottschalk in seinem Ungestüm noch alles beleidigt.«
»Kannst du ihn nicht bremsen?«
»Kaum. Selbst wenn er jetzt reumütig in sein Kloster zurückkehren würde, könnte sein Abt ihn nach der Profess in jedes beliebige Amt schicken. Kannst du dir vorstellen, dass Gottschalk jetzt noch einen Posten in der Bibliothek oder etwas Ähnliches erhält? Wir wissen doch beide, dass er an jeder Stelle im Kloster für Unruhe sorgen würde. Ach, ich weiß nicht, was mit Gottschalk noch passieren wird, aber er macht mir Sorgen.« Walahfrid ließ seinen Blick über die Beete wandern. »Vielleicht ist mir deswegen mein Gärtchen so lieb: Ich weiß genau, was meine Kräuter tun, wenn ich sie gut behandele, sie bieten mir keine Überraschungen, und ich kann mich auf ihre Wirkung verlassen. Das gibt mir einen sicheren Stand im Leben. Pflanzen sind sehr viel zuverlässiger als die Menschen.«
»Für meinen Geschmack sind sie ein wenig zu schweigsam.« Behutsam arbeitete Thegan die letzte Schaufel des Düngers unter und streckte sich. »Ich für meinen Teil habe deinen Lieblingen jetzt lange genug gedient. Es ist an der Zeit, dass ich ein wenig meine Glieder strecke. Ich habe deine Arbeit hier im Garten wirklich zu schätzen gelernt – aber auf Dauer macht die gebeugte Haltung den Rücken krumm und verursacht Schmerzen.«
»Du bist offensichtlich nicht für die Landarbeit geboren, mein lieber Freund«, meinte Walahfrid lächelnd. »Aber geh nur, und suche nach Zerstreuung bei diesem Mädchen. Es scheint dir wirklich gutzutun.«
Thegan deutete eine scherzhafte Verbeugung an. »Danke, dass ich mit deiner Erlaubnis in die weite Welt ziehen darf. Aber tatsächlich muss Hemma heute wieder ihrem Vater helfen, den Fang aus dem See ans Ufer zu bringen. Ich werde also nur ein wenig schwimmen – denn das scheint meinen Narben ebenfalls einige Linderung zu bringen.«
»Irgendwann bist du so gesund, dass du dir überlegen musst, was du mit dem Rest deines Lebens anstellen willst. Aber bis dahin freue ich mich, wenn du mir Gesellschaft leistest.«
Frohgemut ging Thegan durch die Pforte hinaus in das Leben der Klosterstadt. Das Klopfen der Schmiede, das Hämmern der Schreiner und der Geruch nach frisch gegerbter Tierhaut umfingen ihn wie ein Gewand. Die Straße, über die er sich im Winter täglich geärgert hatte, war endlich getrocknet und bot seinen Füßen festen Halt. Fast hätte er leise vor sich hin gesungen, während er den Weg zum kleinen Hafen suchte. Vielleicht war ihm das Glück ja gewogen, und er konnte einen Blick auf Hemma erhaschen, bevor er weiter zu der kleinen Bucht lief, in der er zu schwimmen pflegte.
Er erkannte sie schon von Weitem. Mit ihren schnellen Bewegungen fiel sie neben ihrem Vater auf wie ein Sonnenstrahl in der Dämmerung. Bedächtig belud Routger gerade sein Boot mit den Netzen, mit denen er den Fischen nachstellte. Hemma sorgte dafür, dass auch die Leinen, ein wenig Speis und Trank und eine wärmende Decke mit auf die Reise zur Seemitte gingen. Thegan konnte den Blick nicht von ihr lösen, während er langsam näher kam. Dieses Mal war es allerdings nicht Hemma, die seine Anwesenheit spürte, sondern Routger, der mit einem Mal sein Tun unterbrach, sich aufrichtete und die Menschen am Ufer musterte, bis sein Blick auf Thegan fiel. Er sah Thegan einen langen Augenblick an, in dem sich sein Gesichtsausdruck verfinsterte. Er schien seiner Tochter einige unfreundliche Worte zuzurufen. Sie wurde flammend rot und beschäftigte sich mit einem Mal nur noch mit der Ordnung der Leinen und Taue, die sie ihrem Vater zurechtlegte. Ihr Blick wich dem seinen aus.
Möglichst beiläufig nickte Thegan dem Fischer zu und ging weiter. Konnte es wirklich sein, dass der Mann durch ihn so ungehalten war? Sie kannten einander
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