Holunderliebe
nicht zum Gespött der ganzen Insel werden.«
Das Mädchen kleidete sich rasch an und ließ ihre Haare unter dem blauen Tuch verschwinden. Dann setzte sie sich unter den Holunderbusch und klopfte auffordernd auf den freien Platz neben sich.
Thegan lachte, griff in den Busch und brach einen Zweig mit Blüten ab, den er ihr mit einer kleinen Verbeugung überreichte. Dabei erklärte er: »In meiner Heimat offenbaren die jungen Männer ihre Liebe, indem sie einen Holunderzweig an das Fenster der Angebeteten stecken. Da ich deinen Vater nicht misstrauisch machen möchte, gebe ich dir den Zweig lieber in die Hand. Oder ist dieser Brauch hier nicht bekannt?«
Sie betrachtete den Zweig und legte ihn dann so liebevoll neben sich, als wäre er ein ganz besonderer Schatz. Dann sah sie sinnend in den Busch. »Um die Liebe zu offenbaren – nein, dazu dient der Holler bei uns ganz bestimmt nicht. Er soll Geister und Blitze fernhalten. Und wenn ein Holunder auf einem Grab steht und nach langer Zeit wieder ausschlägt, dann hat die Seele des Menschen, der darunter ruht, für immer ihren Frieden gefunden. Die Menschen hier verwenden die Blüten, um das Fieber zu senken und den Husten zu lösen. Ich sollte schon bald einige davon sammeln und trocknen, damit ich im nächsten Winter einen Vorrat habe. Mein Vater wird durch die Nebel, die im Herbst über den See ziehen, hin und wieder sehr krank. Bei seinem ekelhaften, festsitzenden Husten verschafft der Holler Linderung.«
»Und für die Liebenden hat er keine Bedeutung?« Thegan sah den Bienen bei ihrer Arbeit in dem Strauch zu. »Das finde ich schade – ich habe den Strauch gerade deswegen immer so gemocht. Bei uns reimen sogar die Kinder: ›An Johanni blüht der Holler, da wird die Liebe noch toller!‹ Wenn das nicht wahr ist, warte einige Wochen. Noch ein Monat und wir haben Johanni – dieser Busch hier ist zu früh dran!« Er lachte.
»Wie ist es sonst bei dir zu Hause? Du hast noch nie von deiner Familie erzählt. Hast du viele Geschwister – ich meine neben deinen älteren Brüdern, die den Besitz deines Vaters erben werden?« Sie sah ihn neugierig an.
»Ja. Neben den beiden älteren Brüdern gibt es noch eine ältere Schwester – und zwei jüngere. Ich bin der jüngste Sohn und wurde deswegen wohl immer ein bisschen verwöhnt.« Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Meine Mutter wurde nach meiner Geburt noch einige Male schwanger, aber diese Kinder kamen allesamt tot auf die Welt. Sie wurde darüber schwermütig, vermute ich. Als Kind habe ich mich immer gewundert, dass sie nicht mehr in den Hof kommen wollte und keinen Spaß daran hatte, mit uns Kindern zu spielen. Das hat dann unser Rittmeister übernommen, mit sehr eigenwilligen Methoden. Er hat uns das Schwimmen beigebracht, indem er uns einfach in den nahe gelegenen See warf und erklärte, wie wir uns zu bewegen hatten. Es hat funktioniert: Es dauerte keinen Sommer, und wir alle fühlten uns im Wasser wohler als an der Luft. Nur meine Mutter hatte immer die Sorge, wir könnten mit dem vielen Wasser unsere Lebensgeister abwaschen.«
»Lebt deine Mutter noch?«, fragte Hemma vorsichtig nach.
»Sie tat es, als ich zu meinem großen Abenteuer aufgebrochen bin. Nachdem ich mich entschieden hatte, gegen die Mauren zu kämpfen, weinte sie einige Tage lang. Es half nicht, dass ich ihr immer wieder erklärt habe, ich werde mich auf keinen Fall von den Ungläubigen umbringen lassen. Sie war der Meinung, sie hätte ein weiteres Kind verloren. Dabei ist das der Lauf der Dinge: Jüngere Söhne müssen ihr Glück auf eigene Faust versuchen – oder ihr Leben im Schatten des ältesten Bruders fristen. Und das wäre nun wirklich nicht mein Leben!«
»Hast du deiner Mutter denn Nachricht gegeben, dass du wieder in der Heimat bist – oder zumindest nicht mehr weit davon entfernt?« Das Lachen war aus ihren Augen verschwunden, und sie sah ihn ernst an.
Zerknirscht schüttelte Thegan den Kopf. »Anfangs wollte ich ihr keine Sorgen machen. Ihr nicht erklären, dass ich vor meiner Heimkunft erst meine Verletzungen auskurieren wollte. Und jetzt möchte ich erst einen Plan für den Rest meines Lebens haben, bevor ich mich meiner Familie stelle. Klingt das sehr selbstsüchtig?«
»Fürchtest du nicht, dass sie die ganze Zeit um dich trauert, obwohl dafür eigentlich kein Grund besteht? Was ist, wenn sie in dem Glauben sterben muss, dass ihr Sohn im Kampf gegen die Mauren sein Leben gelassen hat?«
Überrascht fuhr
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