Holunderliebe
Thegan sich mit den Händen durch die Haare. »Ich bin ein schrecklicher Sohn. Tatsächlich habe ich noch nie darüber nachgedacht, sondern mir immer nur vorgestellt, wie ich ins Haus meiner Eltern zurückkehre und wie ein geschlagener Krieger dastehe. Mein ältester Bruder und ich verstehen uns nicht so recht. Er wurde schon als Erbe erzogen, und ich nehme an, das kann das Verhältnis zwischen zwei Geschwistern durchaus vergiften. Auf jeden Fall wollte ich nicht von seinen Almosen abhängig sein.«
Hemma spielte ein wenig mit den Blättern an dem Zweig, den er ihr geschenkt hatte. Sie zögerte, bevor sie die nächste Frage zu stellen wagte. »Und … hast du schon einen Plan, was du mit dem Leben anfängst, das dir geschenkt wurde? Wirst du wieder in den Krieg ziehen?«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann. Andererseits habe ich kein anderes Handwerk gelernt als das des Tötens. Was kann ich schon? Reichlich nutzlose Dinge wie die lateinische Sprache, Wissen über die Geschichte und die Umtriebe unserer Könige, ein wenig über die Bibel – was man Kindern wie mir eben neben dem Schwertkampf beibringt. Das wird hier nicht anders sein als im Haus meiner Eltern.«
»Wie viele Tagesreisen liegt dein Heimatort entfernt?«, wollte Hemma wissen.
»Drei oder vier, es kommt auf die Jahreszeit und die Wege an. Es liegt in der Nähe des Rheins, in einem der Täler, die das Wasser zu ihm bringen. Vom Dach aus kann ich immer zum großen Fluss sehen und mir vorstellen, dass er nach Norden ins Meer führt – zu neuen und großen Abenteuern. Das habe ich zumindest als Kind getan.« Er lächelte versonnen. »Aber da stellt man sich manches so einfach vor. Von den Schwierigkeiten erfährt man erst später.«
»Trotzdem«, meinte Hemma. »Du wirst dort hinmüssen, allein um deine Mutter zu beruhigen. Vielleicht kannst du danach ja hierher zurückkehren. Kannst du nicht für immer hier auf der Insel leben? Wäre das nicht möglich?«
Lachend nahm er sie in den Arm. »Wenn ich eine Idee habe, wie wir unser Leben in Frieden führen können, dann freue ich mich auf eine Zukunft an deiner Seite! Auch wenn ich fürchte, dass dein Vater dich niemals aus der Hand geben wird. Du kochst zu gut und achtest zu sehr auf seinen Haushalt …«
Mit einem Schlag setzte Hemma sich auf. »Ich muss los! Mein Vater hat mir befohlen, dass ich sein Haus putze und für ihn koche, bis er wieder da ist. Sogar frische Betten hat er von mir verlangt. Er möchte wohl nicht, dass ich zu viel freie Zeit habe, um auf dumme Gedanken zu kommen.«
»Als ob du jemals einen dummen Gedanken hättest«, lächelte Thegan und zog sie für einen letzten sanften Kuss an sich. »Am besten lasse ich dir ein wenig Vorsprung, wir sollten nicht Hand in Hand in der Klosterstadt auftauchen. Das würde nun wirklich jeder deinem Vater erzählen.«
Hemma nickte nur, stand auf, richtete noch einmal das Kopftuch und verschwand mit einem letzten Winken. Thegan erhob sich. Er hatte Walahfrid versprochen, vor dem Abendgebet noch einmal im Gärtchen zu helfen – und dieses Versprechen wollte er auch halten.
Sein Freund machte sich bereits an den Beeten zu schaffen, als Thegan wieder auftauchte. Er sah auf und lächelte zur Begrüßung. »Schön, dass du kommst. Ich habe schon fast die Hoffnung aufgegeben, meinen treuen Helfer heute wiederzusehen. Was können meine Kräuter denn bieten, wenn sie in Konkurrenz zu deinem schönen Mädchen stehen?«
Mit einer abwehrenden Handbewegung stellte Thegan sich neben den Mönch, den eine Duftwolke umgab. Überrascht sah er Walahfrid an. »Was ist das? Hier riecht es so lieblich, dass ich meinen könnte, es stünde immer noch ein wunderbares Mädchen neben mir.«
»Das ist die Raute.« Walahfrid bückte sich und pflückte ein einzelnes Blatt, das er gegen die Sonne hielt. »Siehst du die kleinen Punkte? Das sind die Drüsen, in denen dieser Duft sitzt. Die Raute ist wirklich ungewöhnlich – und ihre wunderschönen Blätter eine wahre Zier meines Gartens.«
»Und was kann sie?« Thegan hatte in den letzten Wochen und Monaten diesen Moment lieben gelernt. Wenn Walahfrid seine Pflanzen erklärte, dann wurden aus den einfachsten Blättern wahre Wunderwerke.
»Die Raute wird meistens nur anderen Pflanzen beigemischt«, erklärte Walahfrid. »Aber dann entwickelt sie eine gute Kraft gegen Fieber und Gicht. Außerdem kann man sie in der Speisekammer aufhängen. Die Ameisen bleiben dann fern, und es riecht gut. Nicht zu
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