Holy Shit
Identifikation undDiagnose seltsamerweise wieder in Vergessenheit – bis vor gut dreißig Jahren. Sein schön klingender Name geht zurück auf den französischen Arzt Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette (1857–1904), der den besonders gut dokumentierten Fall der Marquise de Dampierre aufgriff und mit acht weiteren der Fachwelt präsentierte. Dass es gerade eine Adlige, also standesgemäß wohlerzogene, der Contenance verpflichtete Frau war, die unkontrolliert unflätige Wörter wie »Merde!« (»Scheiße!«) und »Salaud!« (»Drecksau!«) ausstieß und dem Zwang zur Wortwiederholung (Echolalie) ausgesetzt war, sorgte für besondere Aufmerksamkeit.
Die Schimpfattacken der Erkrankten, ihre verbalen Tics, geben wichtige Hinweise für die neuronale, psychische und soziale Seite des Phänomens »Fluchen«. Bemerkenswert ist, dass Tourettler mit dem Zwang zum Äußern von Tabuwörtern nicht nur Kraftausdrücke, Ordinäres, Obszönes verwenden, sondern auch andere peinliche Wörter und Halbsätze oder Sätze. So stoßen manche laut den Namen des Exmanns in Gegenwart des neuen Partners aus, den gehasster Personen oder gerade Verstorbener. Je peinlicher der Ausdruck in der jeweiligen Situation und dem aktuellen Umfeld ist, umso stärker scheint der Drang zu sein, ihn zu verwenden. Dazu kommen obszöne und ordinäre, tabuisierte Gesten wie Stinkefinger, Feige, Imitation von Sexbewegungen und das Berühren der eigenen Genitalien, sehr selten das Anfassen anderer. Es gibt darüber hinaus Tourettler, die zwanghaft tabuisierte Wörter schreiben, schließlich Taubstumme, die tabuisierte Wörter in der Gebärdensprache äußern müssen.
Weil das Syndrom zumeist erst mit dem siebten Lebensjahr auftritt und sich oft in der Pubertät noch einmal verstärkt, spricht alles für hirnphysiologische Ursachen, da es in diesen Phasen zu wichtigen Entwicklungen innerhalb des Hirns kommt. Besonders eine Veränderung im Verhältnis der Botenstoffe Serotonin und Dopamin steht in Verdacht, dieSymptome auszulösen. Behandeln lässt sich das Syndrom mit Hilfe von Medikamenten und Verhaltenstherapie, es kann außerdem mit der Zeit verschwinden oder sich im Erwachsenenalter zumindest deutlich abschwächen. So erleichternd das für die Betroffenen und ihr Umfeld ist, empfinden manche dabei auch einen Verlust. Das extreme Verhalten erleben Tourettler nämlich nicht ausschließlich als negativ. Es wirkt wie ein Prüfstein für soziale Bindungen – wer sie so, wie sie sind, akzeptiert, ja die komischen und bereichernden Seiten des Phänomens sehen kann, beweist wahre Freundschaft. Noch wichtiger ist, dass Tics und ihr Ausleben als lustvoll empfunden werden können und als eine Art von Originalität. So berichten viele von einem Vorgefühl, einer Ahnung, sogar dem Wissen, dass ein Tic sich ankündigt. Ihn zu unterdrücken, für eine Zeit abzulenken, können einige lernen, zuweilen sogar über Stunden, was in der Regel aber Unlust, Anspannung, Unkonzentriertheit und Frustration zur Folge haben kann. Irgendwann müssen die meisten ihm dann nachgeben. Die Explosion in einer Schimpfkanonade, in körperlichen Aktionen sei dann durchaus mit Lustgefühlen verbunden.
Tourette hat tausend Gesichter
Jeder Fall ist anders, in Schwere, Ausprägung und individueller Situation. Deshalb lohnt es sich, besonders wenn man niemanden mit dem Syndrom kennt, im Internet die Zeugnisse Betroffener aus vielen Ländern anzusehen. Zu den alltäglichen Problemen gehören etwa Polizeikontrollen, in die viele mit auffälligen körperlichen und verbalen Tics geraten. Selbst der Hinweis auf das Tourettesyndrom hilft dann nicht unbedingt weiter. Man überprüft sie trotzdem, hält sie für Betrunkene, Randalierer, Verrückte. Ein amtliches Attest mit Symptombeschreibungen hilft aus der peinlichen, zeitkostenden Lage.
Eindeutig ist für Betroffene die Kindheit und Jugend eine besonders schwere Zeit, gerade wenn das Tourettesyndrom erst spät erkannt wird. Bis zur Diagnose gelten sie selbst in ihren Familien als schwierig, unwillig, disziplinlos, dumm, vielleicht sogar böse.
Gerade für junge Menschen erweisen sich deshalb Gruppensitzungen und Veranstaltungen wie Tourettesyndrom-Summer-Camps als außerordentlich hilf- und trostreich. Hier verstehen alle, was sie haben, hier verhalten sich alle etwas oder ganz anders als normal. Das Außergewöhnliche wird zur Normalität. Die Tourettler erleben solche Veranstaltungen als eine Auszeit von der sonst üblichen,
Weitere Kostenlose Bücher