Holzhammer 02 - Teufelshorn
Brüstung. Von hier aus hatte man einen perfekten Rundblick in die Halle. Die bunten Klettergriffe einiger Routen führten knapp links und rechts an diesem Aussichtsbalkon vorbei. Natürlich war es verboten, direkt ins Bistro zu klettern, anstatt das Treppenhaus zu benutzen. Und ebenso natürlich wurde es manchmal trotzdem gemacht.
Holzhammer ging an die Brüstung und sah hinunter. Der Betrieb hielt sich in Grenzen, bei dem schönen Wetter hatten sich viele schon tagsüber ausgetobt. Aber wer tagsüber arbeiten musste, so wie sein Sohn Andi, der nutzte die Kletterhalle gern nach Feierabend.
An der gegenüberliegenden Wand entdeckte Holzhammer seinen Sohn. Er sicherte seinen Freund Bernhard, der soeben den Umkehrpunkt in sechzehn Meter Höhe erreicht hatte. Er hängte das Seil in die beiden Karabiner, die zum Ablassen dienten, und Andi ließ ihn zu Boden schweben.
Gleich daneben stand Hilde Stranek und sicherte Xaver Gruber. Der befand sich im oberen Bereich seiner Route und kletterte zügig weiter. Ein schwieriger Dynamo, ein Zug, bei dem man seinen sicheren Halt komplett aufgeben musste, um den nächsten Griff zu erreichen, war für ihn kein Hindernis.
Andi hatte gesagt, dass Gruber Kletterkurse gab. Aber wenn das ein Kurs gewesen wäre, dann würde Hilde klettern und Gruber sie sichern. Die beiden vergnügten sich hier also rein privat. Ganz schön gewagt, eine Woche nach dem Tod ihres Mannes. Warum machte sie das? Die Nachbarn würden reden, das musste ihr doch klar sein. Es machte sie auch nicht gerade unverdächtiger.
Holzhammer sah, dass Hilde kein Sicherungsgerät verwendete, sondern klassisch per Halbmastwurf sicherte. Dabei steuerte man allein durch die Handhaltung, ob das Seil durchlief oder stoppte. Wenn sie das Seil losließ, konnte Gruber bis zum Boden fallen. Holzhammer beschloss, mit dem Zugriff zu warten, bis die Stranek ihren Seilpartner abgelassen hatte. Wieder beschlich ihn dieses ganz schlechte Gefühl.
Andi stand nur einen Meter neben Hilde. Gern hätte Holzhammer seinen Sohn auf sich aufmerksam gemacht. Aber man soll einen Sicherer nicht ablenken. Kaum war Andis Freund unten angekommen, da sah Holzhammer, wie Andi erst zu Gruber nach oben, dann zu Hilde blickte. Gruber kämpfte gerade mit dem letzten schwierigen Zug vor den Umkehrhaken.
Hilde stand etwas sehr nachlässig da, das fiel auch Holzhammer auf. Andi schien unauffällig näher an sie heranzurücken.
Dann ging plötzlich alles sehr schnell.
Gruber oben in der Wand rief: «Zu!» Das Kommando für den Sichernden, ihn fest an die Leine zu nehmen. Dann fiel er auch schon, er hatte den Griff nicht erwischt. Völlig normal in der Kletterhalle. Alle fielen dauernd, besonders die Guten. Nur Übung machte den Meister, mancher Zug wurde zigmal probiert, bevor er klappte. Dafür war man ja gesichert. Das Fallen war nicht das Problem – solange man dabei am elastischen Seil hing, das den Sturz halbwegs sanft auffing. Man sollte nur nicht bis zum Betonboden fallen.
Aber Hilde hatte nicht zugemacht, sondern ließ das Seil durchgleiten. Erst jetzt sah Holzhammer, dass sie Handschuhe trug. Gruber war schon an der nächsten Zwischensicherung vorbei. Er schrie jetzt in Todesangst. Keine Chance, sich festzuklammern, die Wand war überhängend.
Gleichzeitig bewegte sich Andi. Blitzartig griff er zwischen Hilde und ihrem HMS-Karabiner ins Seil. Auch Andi schrie jetzt, das durchrauschende Seil verbrannte ihm die Haut bis auf die Knochen. Aber er ließ nicht los. Er konnte das Seil nicht stoppen, aber abbremsen. Als Gruber auf dem Boden aufschlug, verdankte er Andi sein Leben.
Holzhammer hatte schon sein Handy draußen und rief die Rettung: «Kletterhalle Berchtesgaden, Grounder, zwoa Verletzte.» Dann lief er seinen Kollegen nach, die bereits auf dem Weg nach unten waren.
Gruber und Andi lagen nebeneinander am Boden. Andis Hand sah schlimm aus. Bei Gruber konnte man die Verletzungen nicht sehen, aber er war bei Bewusstsein und stöhnte. Holzhammer achtete darauf, dass niemand auf die Idee kam, Gruber zu bewegen. Sehr wahrscheinlich, dass er sich den Rücken verletzt hatte.
Rundherum war es still geworden. Niemand kletterte mehr, alle standen stumm herum und dachten daran, dass es grundsätzlich jeden hier erwischen konnte. Den genauen Hergang hatte außer Andi und Holzhammer niemand mitbekommen. Die Kletterer konzentrierten sich auf die Wand und ihren Partner.
Während sie auf die Krankenwagen warteten, konnte Holzhammer die ganze Zeit nur
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