Homicide
Kincaid hetzen die jüngeren Streifenpolizisten das Marmortreppchen hoch.
Wenn sie einen Haftbefehl hätten, wenn gegen Vincent Booker eine Anklage wegen Mord an seinem Vater und Lena Lucas vorläge, würden die Detectives ihre kugelsicheren Westen tragen, mit gezückter Waffe anrücken und die Tür entweder kurzerhand mit einer Axt einschlagen oder von einem der Streifenpolizisten mit einem kräftigen Tritt öffnen lassen, sollte sich beim ersten Klopfen nichts tun. Die Razzia würde ebenfalls etwas unsanfter verlaufen, wenn der Durchsuchungsbefehl von einem Detective des Drogendezernats ausgestellt worden wäre. Doch im Moment gibt es keinen Grund für die Annahme, dass sich Vincent Booker wie ein Desperado aufführen wird. Und es ist unwahrscheinlich, dass das Beweismaterial, das sie hier vorzufinden hoffen, verschluckt oder im Klo runtergespült wird.
Nach lautem Klopfen kommt ein junges Mädchen an die Tür.
»Polizei. Aufmachen!«
»Wer ist da?«
»Polizei. Machen Sie sofort auf!«
»Was wollen Sie?«, fragt das Mädchen, das die Tür einen Spalt weit geöffnet hat. Der erste Uniformierte stößt sie ganz auf, und der ganze Trupp dringt an dem Mädchen vorbei ins Haus ein.
»Wo ist Vincent?«
»Oben.«
Die Polizisten rennen die Treppe hinauf, wo ihnen ein schlaksiger junger Mann mit weit aufgerissenen Augen entgegentritt. Vincent Booker sagt kein Wort und lässt sich ohne Protest die Handschellen anlegen, als hätte er schon lange auf diesen Augenblick gewartet.
»Warum wollen Sie ihn denn verhaften?«, schreit das Mädchen. »Sie sollten lieber den Mann verhaften, der seinen Vater umgebracht hat.«
»Beruhig dich«, sagt Garvey.
»Warum sperren Sie ihn ein?«
»Immer mit der Ruhe. Wo ist deine Mutter?«
Kincaid deutet in das Zimmer im Erdgeschoss. Die Matriarchin des Booker-Clans ist eine zerbrechliche, zierliche Frau, die in einer Ecke eines abgenutzten, blumengemusterten Sofas sitzt. Sie verfolgt auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher die Liebesdramen schöner Menschen. Mit der Seifenoper im Hintergrund stellt sich Garvey vor, zeigt den Durchsuchungsbefehl und erklärt ihr, dass Vincent mit aufs Präsidium kommen muss.
»Ich habe von solchen Sachen keine Ahnung«, sagt sie und weist das Dokument mit einer Handbewegung zurück.
»Hier steht nur, dass wir Ihr Haus durchsuchen dürfen.«
»Warum?«
»Es steht in diesem Durchsuchungsbefehl.«
Die Frau zuckt die Achseln. »Ich verstehe nicht, warum Sie in meinem Haus herumschnüffeln wollen.«
Garvey gibt es auf und legt einen Durchschlag auf einen Beistelltisch. Oben, in Vincent Bookers Zimmer, werden Schubladen aufgerissen und Matratzen umgedreht. Inzwischen ist Dave Brown, der Primary für den Mordfall Booker, eingetroffen, und die drei Detectives durchsuchen langsam und systematisch das Zimmer. Brown räumt die Kommode des Jungen aus, während Garvey auf der Suche nach einem Versteck gegen jede Platte der Deckenvertäfelung drückt. Kincaid nimmt den Kleiderschrank auseinander. Nur einmal unterbricht er seine Arbeit kurz, um ein Pornoheftchen durchzublättern, das im oberen Fach versteckt war.
»Ist ja nicht gerade benutzt, das Ding«, sagt Kincaid und lacht. »Viele Seiten kleben nicht zusammen.«
Nach einer knappen Viertelstunde werden sie fündig, heben den Sprungfederrahmen des Doppelbetts heraus und lehnen ihn an die Wand. Zum Vorschein kommt ein verschlossener Angelkasten. Garvey und Brown sehen sich sämtliche Schlüsselbunde an, die sie bei der Durchsuchung gefunden haben, ob ein Schlüssel für das kleine Vorhängeschloss dabei ist.
»Der hier.«
»Nein, der ist zu groß.«
»Wie wär’s mit dem braunen daneben?«
»Was für ein Kack«, sagt Brown. »Gleich mach ich das Scheißding mit ’ner 38er-Kugel auf.«
Kincaid und Garvey lachen.
»Hatte er Schlüssel bei sich?«
»Die hier.«
»Der da könnte passen.«
»Nein, probier mal den silbernen.«
Das Schloss springt auf, der Angelkasten teilt sich und gibt den Blick auf mehrere Bündelchen Zellophantütchen frei. Zum Vorschein kommen eine kleine Waage, etwas Bargeld, ein wenig Marihuana, eine ordentliche Klappmessersammlung und eine Seifendose aus Plastik. Die Messer werden vorsichtig aufgeklappt, zeigen aber keinerlei rotbraune Flecken, in der Seifenschale hingegen findet sich etwa ein Dutzend Patronen Kaliber .38, die meisten davon Wadcutter.
Kurz bevor die Detectives aufbrechen, nimmt Garvey die Messer und die Seifendose und trägt sie hinunter zu Mother Booker, die
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