Homicide
habe geklungen, als wären die Stimmen von unten heraufgedrungen, vielleicht aus einer der Wohnungen im ersten Stock des Nachbarhauses.
Eine Zeit lang hatte das Mädchen niemandem etwas davon gesagt. Doch dann hatte sie es einer Angestellten in der Mensa ihrer Schule erzählt, die, wie sie zufällig wusste, Lenas Schwester war. Daraufhin drängte die Frau das junge Mädchen, die Polizei zu benachrichtigen. Aber die Zeugin sträubte sich, und so rief Lenas Schwester am folgenden Tag selbst im Morddezernat an. Das junge Mädchen hieß Romaine Jackson, und trotz ihrer großen Angst musste sie nur ein bisschen gestupst werden, um das Richtige zu tun. Als die Detectives ihr sechs Fotos zeigten, zögerte sie bloß einen kurzen Augenblick, bevor sie auf das von Robert Frazier deutete. Nachdem sie schließlich ihre protokollierte Aussage gelesen und unterschrieben hatte, fuhr Rich Garvey sie nach West Baltimore zurück und ließ sie ein paar Blocks vor der Gilmor Street aussteigen, damit niemand sie in Begleitung eines Detective sah. Am Tag darauf kurvten Garvey und Kincaid durch das Viertel um FraziersWohnung in der Fayette Street und entdeckten einen roten Wagen, der dem von Romaine beschriebenen glich. Er war auf Fraziers Mutter angemeldet.
Doch auch mit dem Auftauchen einer lebenden Zeugin blieb Vincent Booker für Frazier eine Hintertür, eine Notluke. So sehr Garvey jetzt von Fraziers Schuld überzeugt war, er musste einräumen, dass jeder gute Verteidiger angesichts von Vincents Verwicklung in den Fall vor dem Stadtgericht seiner Fantasie freien Lauf lassen würde. Irgendwie war Vincent beteiligt – die 38er-Wadcutters in der Seifenschale ließen keinen Zweifel daran –, aber als Mörder? Das ergab einfach keinen Sinn.
Erstens waren da das Kleiderhäufchen und die Messerkerben am Kopfteil des Bettes in Lenas Schlafzimmer; außer für einen Geliebten hätte die Frau sich bestimmt nicht eben mal ausgezogen und auf dem Bett ausgestreckt. Das sprach nicht für Vincent, sondern für Frazier als Täter. Auf der anderen Seite war Purnell Booker durch dieselbe Waffe getötet worden wie Lena. Welche Verbindung bestand zwischen Frazier und dem Vater eines Jungen, der für Frazier Kokain vertickte? Warum sollte überhaupt jemand den alten Booker umbringen? Der Mann, der Lena ermordet hatte, hatte Kokain aus dem im Schrank versteckten Reissack entwendet, aber warum hatte er Purnell Bookers Wohnung durchwühlt?
Vincent ist der Schlüssel, und wenn Garvey den Jungen im kalten Licht des großen Verhörraums betrachtet, kann er sich nicht vorstellen, dass er der Täter ist. Undenkbar, dass dieses Kind seinem Vater so etwas angetan hat. Ein Mord, schon möglich. Aber die über ein Dutzend Schnitte im Gesicht des alten Mannes konnten nicht sein Werk sein. Selbst wenn Vincent es geschafft haben sollte, Lena so zuzurichten, den eigenen Vater einer solchen Qual zu unterziehen, so eiskalt war der Junge auf keinen Fall. Kaum einer ist das.
Vincent schmort schon über eine Stunde in dem Kasten, als Garvey und Kincaid schließlich den Raum betreten und der Monolog beginnt. Wadcutter in der Seifenschale, Utensilien für den Drogenverkauf, Klappmesser, und dein Freund Frazier hängt dir beide Morde an. Du steckst tief in der Scheiße, Vincent, ganz tief. Fünf Minuten reichen, um die erwünschte Angst zu erzeugen, nach zehn Minuten ist das Formular ausgefüllt, unterzeichnet und beglaubigt.
Die Detectives nehmen das Blatt und besprechen sich kurz im Flur.
»He!, Rich.«
»Hmm?«
»Dieser Junge hat nicht den Hauch einer Chance«, sagt Kincaid flüsternd wie ein Souffleur. »Du trägst heute deinen Power Suit.«
»Stimmt.«
Kincaid lacht.
»Der dunkelblaue mit den Nadelstreifen« sagt Garvey und klappt ein Revers hoch. »Der merkt gar nicht, wie er plattgemacht wird.«
Kincaid schüttelt den Kopf und widmet Garveys Anzug einen letzten Blick. Geboren in Kentucky, spricht Donald Kincaid in lautem Ton und mit breitem Akzent; über seinem linken Handgelenk hat er seine Initialen eintätowiert. Garvey spielt Golf in Hilton Head und spricht von Power Suits; Kincaid trainiert Jagdhunde und träumt von der Jagd in West-Virginia. Dieselbe Truppe, verschiedene Welten.
»Möchtest du’s allein mit ihm versuchen?«, fragt Kincaid, als sie wieder zum Verhörraum gehen.
»Ne«, erwidert Garvey, »komm, den ficken wir zusammen.«
Vincent Booker wartet mit dem Rücken zur Wand, die Hände in den Falten seines Sweatshirts verborgen, auf die
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