Homicide
Vincent und schüttelt den Kopf. Er schwitzt, mit einer Hand klammert er sich an die Tischkante, die andere hat er fest in den Saum seines Sweatshirts gewickelt. Ein Teil der Übelkeit ist die Angst, auf zwei Morde festgenagelt zu werden, ein anderer die Angst vor Robert Frazier. Doch am meisten fürchtet er seine Familie. In diesem Augenblick weiß Garvey mit noch größerer Sicherheit als zuvor, dass dieser Junge unmöglich seinen Vater getötet haben kann. Zu so etwas ist er nicht imstande. Aber die Kugeln stellen eine Verbindung zwischen ihm und dem Verbrechen her, und die Tatsache, dass er in weniger als einer Stunde zu einem sprachlosen Wrack geworden ist, zeigt, dass er ein schlechtes Gewissen hat und etwas weiß. Vincent Booker ist kein Mörder, aber er hat bei dem Tod seines Vaters eine Rolle gespielt, zu allermindest kennt er den Mörder und hat geschwiegen. Auf jeden Fall gibt es etwas, dem er sich nicht stellen kann.
Garvey spürt, dass der Junge noch einen Anstoß braucht, verlässt den Verhörraum und greift nach der Plastikseifenschale, die sie in Vincents Zimmer gefunden haben.
»Gib mir eine davon«, sagt er und nimmt sich eine 38er-Patrone. »Das kleine Arschloch braucht ein bisschen Sachkundeunterricht.«
Garvey kehrt in den Kasten zurück und legt Kincaid die 38er-Patrone in die Hand. Der ältere Detective benötigt keine weitere Aufforderung: Er stellt die Patrone mitten auf den Tisch.
»Siehst du die Patrone hier?«, fragt Kincaid.
Vincent schaut sie sich an.
»Das ist keine ganz normale 38er-Munition, oder? Wir können sie in ein FBI-Labor schicken, um sie analysieren zu lassen. Normalerweise brauchen sie zwei oder drei Wochen dafür, aber wenn sie sich beeilen, schaffen sie es in zwei Tagen. Und dann können sie uns sagen, aus welcher 50er-Schachtel sie stammen«, sagt Kincaid und schiebt die Patrone langsam zu dem Jungen hinüber. »Also sag mir, ob es bloßer Zufall ist, wenn das FBI feststellt, dass diese Patrone aus derselben Schachtel stammt wie die, durch die dein Daddy und Lena zu Tode gekommen sind. Sag’s mir.«
Vincent wendet den Blick ab, die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet. Ein perfekter Bluff: Selbst wenn das FBI in der Lage wäre, die 38er-Patronen auf eine Chargennummer der in die Hunderttausende gehenden Schachteln einzuschränken, bräuchte es dazu wahrscheinlich ein halbes Jahr.
»Wir versuchen nur, es dir klarzumachen, mein Freund«, sagt Garvey. »Was, glaubst du, wird der Richter mit einem solchen Beweis machen?«
Der Junge schweigt.
»Todesstrafe, Vincent.«
»Und ich werde der Zeuge sein«, fügt Kincaid in seinem breiten Kentucky-Akzent hinzu.
»Todesstrafe?«, fragt Vincent erschrocken.
»Aber sicher«, sagt Kincaid.
»Ehrlich, mein Sohn, wenn du uns belügst …«
»Auch wenn wir dich heute wieder gehen lassen«, erklärt Kincaid, »kannst du dir nie sicher sein, ob nicht wir es sind, wenn wieder an deine Tür geklopft wird, und wir dich doch noch einsperren.«
»Und wir klopfen bestimmt wieder bei dir an«, sagt Garvey und zieht seinen Stuhl näher zu Vincent. Wortlos sieht er dem Jungen ins Gesicht, er beugt sich vor, bis ihre Augenpaare keine dreißig Zentimeter mehr voneinander entfernt sind. Und dann beschreibt er ihm mit leiser Stimme den Mord an Purnell Booker. Ein Streit, ein kurzer Kampf vielleicht, dann das Messer. Garvey rückt noch näher und erzählt Vincent von den ungefähr zwanzig Schnitten im Gesicht, dabei tätschelt er mit dem Finger leicht die Wange des Jungen.
Vincent Booker wird sichtlich schlecht.
»Red es dir von der Seele, mein Sohn«, sagt Garvey. »Was weißt du über diese Morde?«
»Ich habe Frazier die Patronen gegeben.«
»Du hast ihm Patronen gegeben?«
»Er hat mich darum gebeten … da habe ich ihm sechs Stück gegeben.«
Der Junge ist den Tränen nahe, fasst sich aber schnell wieder, stützt die Ellbogen auf den Tisch und verbirgt das Gesicht in den Händen. »Warum hat Frazier dich um Patronen gebeten?«
Vincent zuckt die Achseln.
»Verdammt, Vincent.«
»Ich habe nicht …«
»Du verheimlichst uns etwas.«
»Ich …«
»Mach dir Luft, mein Junge. Wir versuchen dir zu helfen, damit du wieder von vorn anfangen kannst. Das hier ist deine einzige Chance, von vorn anzufangen.«
Vincent Booker bricht zusammen.
»Mein Daddy …«, sagt er.
»Warum wollte Frazier deinen Vater umbringen?«
Als Erstes erzählt er ihnen von den Drogen, dem abgepackten Kokain in seinem Zimmer zu Hause bei der Mutter, das
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