Homicide
die tödliche Kugel John Randolph Scotts Herz durchschlug, und zwar in einem leicht nach unten geneigten Winkel, der dem des Gefälles auf dem Weg entspricht. Scott war beinahe auf der Stelle tot, wie auch das Obduktionsergebnis bestätigte. Er starb an einem Schuss in den Rücken, als er vor Polizisten der Stadt Baltimore flüchtete.
In den ersten Stunden dachte man im Fall Scott nicht an Mord oder Totschlag, sondern ging von Tod durch Einsatz einer Polizeiwaffe aus – und zwar unter zweifelhaften Umständen, was einen gut überlegten Bericht erfordern würde, wollte man verhindern, dass ein Kollege von einer Grand Jury auseinandergenommen wurde. Doch anfangs sah man nichts, was den Namen Verbrechen verdient hätte.
Das Opfer hatte mit einem Kumpel in einem Dodge Colt gesessen, der von zwei Streifenpolizisten des Central District als gestohlenes Fahrzeug identifiziert und über den Martin Luther King Boulevard, die I-170 runter bis auf die Raynor Avenue verfolgt wurde. Dort stiegen Scott und sein einundzwanzigjähriger Begleiter aus und flüchteten in verschiedene Richtungen in die Seitenstraßen des Reihenhausghettos. Als die beiden Uniformierten des Central District aus dem Funkwagen sprangen, um zu Fuß die Verfolgung aufzunehmen, geriet einer von ihnen, der siebenundzwanzigjährige Brian Pedrick, ins Stolpern und löste einen Schuss aus seiner Dienstwaffe aus. Pedrick erklärte den Ermittlern später, es sei ein Missgeschick gewesen, ein Unfall. Der Schuss sei losgegangen, als er beim hastigen Verlassen des Wagens das Gleichgewicht verlor. Sein Revolver habe nach unten gezeigt, meinte Pedrick, die Kugel müsse vor ihm in den Asphalt geschlagen sein; auf keinen Fall hätte sie einen Effekt auf den Verfolgten gehabt haben können, der im unübersichtlichen Gelände hinter den Häusern verschwand. Pedrick hatte den Jungen aus den Augen verloren, doch unterdessen waren weitere Streifenwagen vom Central, Western und Southern District eingetroffen und rollten durch die benachbarten Seitenstraßen und Gassen.
Einige Minuten später forderte ein Sergeant vom Central District einen Krankenwagen und ein Team der Mordkommission an. Etwa drei Querstraßen von der Stelle entfernt, wo Pedricks Schuss gefallen war, hatte er einen Toten gefunden. Gab es Schüsse aus einer Polizeiwaffe, fragte die Leitstelle. Nein, erwiderte der Sergeant. Aber dann erschien Pedrick am Tatort und gab zu, geschossen zu haben. Der Sergeant ergriff sein Mikrofon. Korrektur, sagte er. Mit Polizeibeteiligung.
Worden und sein Partner Rick James trafen wenige Minuten später am Tatort ein. Sie untersuchten den Toten, sprachen mit dem Sergeant vom Central District und inspizierten Pedricks Dienstwaffe. Ein Schuss fehlte. Man nahm dem Streifenpolizisten die Waffe ab und brachte ihn ins Morddezernat, wo er zugab, geschossen zu haben, jede weitere Aussage aber verweigerte, ehe er nicht mit einem Anwalt der Polizeigewerkschaft gesprochen hatte. Und was das bedeutete, wusste Worden.
Will ein Detective einen Polizeibeamten im Rahmen einer Ermittlung befragen, antwortet der Gewerkschaftsanwalt darauf mit einemStandardsatz. Entweder der Beamte erhält eine Dienstanweisung – dann verfasst er einen Bericht, in dem er seine Aktionen während der fraglichen Schießerei erklärt – oder nicht – worauf er die Aussage verweigert. Denn wenn ein solcher Bericht als Folge einer Anweisung entsteht, stellt er nicht das Ergebnis einer freiwilligen Aussage dar und kann vor Gericht nicht mehr als Belastungsmaterial gegen den Beamten verwendet werden. Im vorliegenden Fall hatte es der diensthabende Staatsanwalt an jenem Abend abgelehnt, einen Bericht anzuordnen. Damit steckte die Sache juristisch in einer Sackgasse, und folgerichtig konzentrierten sich die Ermittlungen auf das Naheliegendste: zu zeigen, dass Officer Brian Pedrick – ein erfahrener Cop mit einer fünfjährigen Dienstzeit, der noch nie durch Brutalität oder übermäßige Gewaltanwendung aufgefallen war – einer flüchtigen Person mit seiner Dienstwaffe in den Rücken geschossen hatte.
Zwölf Stunden lang gab es im Fall Monroe Street keinerlei Zweifel und Unklarheiten, doch dann erfuhr die Sache eine entscheidende Wendung: John Randolph Scott war nicht von Officer Brian Pedrick erschossen worden.
Als am Morgen nach dem Vorfall Scotts Leichnam in der Rechtsmedizin ausgezogen wurde, fanden man in den blutigen Kleidern eine Kugel vom Kaliber .38. Sie wurde noch am gleichen Nachmittag im Labor der
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