Homicide
zwanzig Jahren Morddezernat und fünfzehn Jahren Polizeidienst. Die Fünfundsechzig hat er schon hinter sich gelassen; er ist also weit über den Punkt hinaus, an dem sich die meisten Cops für die Pensionierung als vernünftige Alternative entscheiden, dennoch lässt er es sich nicht nehmen, jeden Tag zur Arbeit zu erscheinen. Er hat vielleicht dreitausend Tatorte gesehen und ist damit ein wandelndes Stück Polizeigeschichte. Ältere Detectives erinnern sich noch an die Zeit, als Corbin und Fury Cousins, zwei der ersten Schwarzen im Morddezernat, noch alles und jeden in Baltimores Innenstadt kannten und dieses Wissen für ihre Ermittlungen nutzten. Die Stadt war damals kleiner und übersichtlicher und Corbin praktisch überall zu Hause. Wenn ein Schütze auf den Spitznahmen Mac hörte, brauchte man Corbin nur zu sagen, ob der Mac aus dem Osten oder aus dem Westen von Baltimore gemeint war, oder seine Frage beantworten, ob man vielleicht von Big Mac Richardson oder Racetrack Mac vom oberen Ende der Avenue sprach. Und eigentlich brauchte er noch nicht mal das, denn Corbin kannte von ihnen allen jeweils zwei, drei Adressen. So gut war er damals.
Doch die vergangenen zwanzig Jahre hatten nicht nur die Stadt verändert, sondern auch Howard Corbin, der längst zur Abteilung Wiederholungstäter am anderen Ende des fünften Stockwerks versetzt worden war: In letzter Zeit kämpfte Corbin ein Nachhutgefecht gegen den Wandel selbst und versuchte seinen Vorgesetzten zu beweisen, dass er trotz Alter und Diabetes noch immer genauso fit war wie früher. Ein ehrenwerter Kampf, doch teilweise schmerzlich anzuschauen. Für diejüngeren Detectives zeigt sich an Corbin exemplarisch, welchen Preis die Aufopferung im Polizeidienst fordert. Noch immer kommt er morgens in aller Frühe zur Arbeit, noch immer füllt er seine Fahrtbögen aus und bearbeitet seine ein, zwei Fälle, doch im Grunde existiert die Abteilung Wiederholungstäter nur auf dem Papier und verfügt lediglich über ein halbes Büro und eine Handvoll Männer. Das weiß auch Corbin, und daher sieht man ihn keinen Tag auf der Arbeit, an dem er nicht auch sagt, was er denkt. Das Morddezernat wird für ihn immer das Gelobte Land bleiben, und der Fall Latonya Wallace ist seine Chance für den Exodus.
Einen Monat nach dem Mord bat Corbin Colonel Lanham, sich die Wallace-Akte anschauen zu dürfen, und der Colonel sah keinen Grund, es ihm zu verweigern, obwohl er genauso wie alle anderen wusste, was sich dahinter verbarg. Aber warum nicht? Es konnte schließlich nicht schaden, dachte Lanham, wenn die Akten von einem erfahrenen Detective durchgesehen wurden. Einem Unvoreingenommenen mochte das eine oder andere auffallen. Und wenn Corbin den Mord zufällig irgendwie aufklären konnte, dann stand ihm eventuell sogar das Recht zu, ans andere Ende des Flurs zurückzukehren.
Pellegrini aber war verärgert, als Corbin, kaum dass ihm die Bitte gewährt worden war, ins Büro im Anbau umzog und sich der Akte bemächtigte. Corbin war gerade erst aufgetaucht, da gab es auch schon eine Flut von ausführlichen getippten Ergänzungsberichten, in denen der alte Detective seine täglichen Fortschritte in der Verfolgung irgendwelcher Spuren dokumentierte. Für Pellegrini war die Akte bald schon allein wegen des Umfangs nicht mehr zu bewältigen, und vieles erschien ihm überflüssig. Wichtiger war jedoch, dass durch Corbins Beteiligung nun nicht mehr der Ansatz verfolgt wurde, den Pellegrini in seinem Memo an den Captain vorgeschlagen hatte. Er hatte sich darin für eine sorgfältige Überprüfung des vorliegenden Beweismaterials durch den leitenden und den zweiten Ermittler ausgesprochen, also die beiden Detectives, die am besten mit dem Fall vertraut waren. Jetzt aber schien die Akte wieder zum Allgemeinbesitz geworden zu sein.
Nun soll also nicht Pellegrini, sondern ersatzweise Corbin die Ermittlungen gegen Kevin Lawrence aufnehmen, zumindest bis sich der Verdacht erhärtet hat. »Wenn der Kerl irgendwie mit drinhängt«, versichertLandsman den anderen im Team, »werden wir Tom auf alle Fälle zu Hause anrufen.«
Das zieht jedoch niemand in Erwägung, als sie am nächsten Tag mit dem Rektor der Eutaw-Marshburn-Grundschule sprechen, der ihnen bestätigt, dass Kevin Robert Lawrence von 1971 bis 1978 hier unterrichtet wurde. Sie fassen es auch nicht ins Auge, nachdem eine gründlichere Computerrecherche nichts zutage gefördert hat, was man als eine Art Vorstrafenregister bezeichnen könnte,
Weitere Kostenlose Bücher