Homicide
unterschwellige Allergie, die unter normalen Umständen von den Abwehrkräften des Körpers in Schach gehalten wird, durch Stress zum Ausbruch kommen. Stehen Sie in letzter Zeit verstärkt unter Stress?
»Wer? Ich?«
Seit drei Monaten war Pellegrini schon ausgepumpt, wenn er zur Arbeit kam, um sich wieder und wieder dieselben Fotos anzuschauen und dieselben Berichte durchzulesen. Und jeden Tag sagten sie ihm dasselbe. Ab und zu wanderte er durch die Straßen von Reservoir Hill und überprüfte auf der Suche nach dem mysteriösen Tatort den Keller eines leer stehenden Reihenhauses oder die Ladefläche eines aufgegebenen Autos oder eines Pick-up. Er ging noch einmal die Hintergründe jedes nennenswerten Verdächtigen durch, befragte Freunde, Verwandte und Bekannte des Fish Man, von Ronald Carter, der den Fish Man belastet hatte, und von Andrew, der seinen Wagen hinter den Häusern geparkt und zugegeben hatte, an jenem Abend draußen gewesen zu sein, als man die Leiche ablud. Er verfolgte auch neue Hinweise und überprüfte einen Sexualstraftäter, der wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen im Bezirksgefängnis saß, sowie einen Pädophilen, der dabei erwischt worden war, wie er vor den Toren einer Grundschule an sich herumspielte. Er beobachtete Lügendetektortests seiner potenziellen Verdächtigen in der Kaserne der Bundespolizei in Pikesville, die jedochnur neue Fragen aufwarfen. Und als das alles nichts brachte, ging er nach unten in die Spurensicherung und stritt sich mit Van Gelder, dem Leiter des Labors. Was ist mit den schwarzen Flecken auf der Hose des toten Mädchens? Stammt der Teer von einem Dach? Oder von der Straße? Könnte man die Möglichkeiten nicht ein bisschen eingrenzen?
Unterdessen bemühte sich Pellegrini, seine normalen Schichten einzuhalten und die Fälle zu bearbeiten, die ihm über den Weg liefen. Ihm fiel es jedoch schwer, sich auf gewöhnliche Schießereien und messerschwingende Ehemänner zu konzentrieren. Einmal, als er den Zeugen einer ausgesprochen unambitionierten Gewalttat befragte, wollten ihm nicht einmal mehr die einfachsten Fragen einfallen. Erschreckend. Noch keine zwei Jahre im Morddezernat, und schon litt er unter einem echten Burn-out. Pellegrini musste sich eingestehen, dass er wirklich ausgebrannt war. Einfach mit seinen Kräften am Ende.
Anfang Juni meldete er sich für über zwei Wochen krank und versuchte, sich auf das zu besinnen, was ihn ursprünglich ins Morddezernat geführt hatte. Er schlief, er aß, er spielte mit dem Baby. Und dann schlief er wieder. Weder fuhr er in die Stadt, noch rief er im Büro an. Tote Mädchen verbannte er so weit wie möglich aus seinen Gedanken.
So ist Tom Pellegrini immer noch krank, als der Fingerabdruck auf Gary D’Addarios Schreibtisch landet, und der Lieutenant entscheidet sich eher aus menschlichen denn aus taktischen Gründen, ihn in Ruhe zu lassen. Die anderen Detectives finden es zunächst schade und auch ein bisschen paradox, dass der leitende Ermittler nicht dabei ist, als sie sich in Kevin Lawrences Leben drängen und alles über diesen irgendwie vom Himmel gefallenen Niemand in Erfahrung bringen. Dabei hätte es Pellegrini mehr als jeder andere im Dezernat verdient, einen neuen Hoffnungsschimmer am Horizont zu sehen. So empfinden es jedenfalls Donald Kincaid und Howard Corbin, während sie die Spuren ihres neuen Verdächtigen zurückverfolgen, um festzustellen, ob er über Freunde oder Verwandte Verbindungen zum Gebiet von Reservoir Hill hat. Auch die anderen ihrer Schicht finden, dass Pellegrini dabei sein sollte, als sie ihren Neuen in der Zentraldatei des FBI überprüfen lassen oder im städtischen Computer nach Vorstrafen suchen, die der nicht ausspuckt, die es ihrem Gefühl nach aber unter einem anderen oder einem Spitznamen irgendwo geben muss. Oder als sie mit LawrencesFreunden und Familienangehörigen sprechen. Pellegrini hätte es verdient, sagen alle in den ersten Stunden nach dem Treffer, diesen Triumph der Gerechtigkeit mitzuerleben, wenn der verflixte Fall endlich gelöst wird.
Stattdessen aber wird er Kincaid und Corbin übertragen. Kincaid, weil er morgens als Erster zur Tagschicht eintraf und D’Addario ihn gleich zu fassen bekam, als er den neuen Printrak-Bericht in den Händen hatte; und Corbin, weil er zum Urgestein des Dezernats gehört, und weil ihn der Mord an Latonya Wallace kaum weniger gepackt hat als Pellegrini.
Der Graukopf Corbin mit den herrlich schiefen Zähnen ist das Produkt von
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