Homicide
alt?«
»Siebzehn. Er kam durch die Haustür rein und lief nach oben. Mein älterer Bruder ist zu ihm und hat gesehen, dass er angeschossen wurde. Dann hat er gleich neun-eins-eins gewählt. Derrick sagte, er war an der Bushaltestelle, da hat einer auf ihn geschossen. Mehr nicht.«
»Weiß er, wer?«
»Nein, nur, dass auf ihn geschossen wurde.«
Worden lässt sich von James die Taschenlampe geben und geht mit einem Uniformierten nach draußen.
»Sind Sie als Erster eingetroffen?«
»Nein«, sagt der Streifenbeamte. »Rodriguez.«
»Wo ist er?«
»Mit dem Opfer zur Notaufnahme gefahren.«
Worden wirft dem Streifenpolizisten einen Blick zu, dann kehrt er zur Haustür zurück und richtet die Taschenlampe auf den Verandaboden. Keine Blutspur. Kein Blut am Türgriff. Der Detective lässt den Lichtstrahl über die Ziegelfront des Reihenhauses gleiten. Kein Blut. Keine frischen Beschädigungen. Nur ein Loch, aber viel zu gleichmäßig für den Einschlag einer Kugel. Wahrscheinlich eine alte Bohrung für irgendeine Lampenfassung.
Worden geht mit der Taschenlampe über den Eingangsweg bis zur Straße. Dann kehrt er ins Haus zurück und sucht die Räume im Obergeschoss ab. Noch immer kein Blut. Wieder im Erdgeschoss stellt er sich neben James, der den Sechzehnjährigen befragt.
»Wo ist dein Bruder hingelaufen, als er ins Haus kam?«, fährt er dazwischen.
»Nach oben.«
»Aber oben ist kein Blut.«
Der Junge starrt auf seine Schuhe.
»Was ist hier vorgefallen?« Worden macht jetzt Druck.
»Wir haben es weggemacht.«
»Ihr habt es weggemacht?«
»Mhm.«
»Ach so.« Worden verdreht die Augen. »Dann lass uns noch mal nach oben gehen.«
Der Junge nimmt zwei Stufen auf einmal, dann wendet er sich in ein zugemülltes Jugendzimmer mit Fotos von Bikinimodels und New Yorker Rappern in Designersweatshirts an den Wänden. Ohne weiter gedrängt worden zu sein, zieht der Sechzehnjährige zwei blutverschmierte Laken aus einem Wäschekorb.
»Wo waren die?«
»Auf dem Bett.«
»Wirklich?«
»Wir haben die Matratze umgedreht.«
Worden sieht nach. Gut ein Viertel der Oberfläche ist blutgetränkt.
»Welche Jacke hat dein Bruder angehabt, als er reinkam?«
»Die graue.«
Worden nimmt eine graue Steppjacke vom Stuhl und inspiziert sie sorgfältig innen und außen. Dann geht er zum Schrank und überprüfteine Winterjacke nach der anderen, ehe er sie aufs Bett wirft. James schüttelt langsam den Kopf.
»Und jetzt sage ich dir, was passiert ist«, setzt James an. »Du warst hier drinnen und hast mit der Knarre rumgespielt. Und dabei hat dein Bruder einen Schuss abgekriegt. Wenn du jetzt die Wahrheit sagst, werden wir dich nicht einsperren. Wo ist die Pistole?«
»Welche Pistole?«
»Herr im Himmel! Wo ist die verdammte Pistole?«
»Ich weiß von keiner Pistole.«
»Dein Bruder hat eine Knarre. Und die muss weg.«
»Derrick hat den Schuss an der Bushaltestelle abgekriegt.«
»Den Teufel hat er«, sagt James, der langsam zornig wird. »Er hat hier drinnen rumgemacht, und du oder dein Bruder oder jemand anders hat ihm aus Versehen einen Schuss verpasst. Also, wo ist die verdammte Knarre?«
»Wir haben keine.«
Der klassische Fall, denkt Worden, während er den Jungen mustert. Wirklich klassisch. Das Paradebeispiel für Regel Eins im Handbuch für Mordermittler, für den ersten Eintrag ganz oben.
Jeder lügt.
Mörder, Räuber, Messerstecher, Sexualverbrecher, Dealer, Junkies, die Hälfte der Zeugen von Kapitalverbrechen, Politiker aller Couleur, Gebrauchtwagenhändler, Freundinnen, Ehefrauen, Exfrauen, sechzehnjährige Jungs, die versehentlich ihren Bruder angeschossen haben und die Waffe verstecken – für einen Detective der Mordkommission rotiert die Erde um eine Achse der Lügen in einer Welt der Täuschung. Und, verdammt, manchmal gilt das sogar für Polizisten. Während der vergangenen sechs Wochen hat Donald Worden zahllose Aussagen von Männern in der gleichen Uniform aufgenommen, die auch er sein Leben lang getragen hat. Jeder von ihnen bemühte sich um eine möglichst schlüssige Erklärung, warum er auf keinen Fall auch nur in der Nähe jenes Abschnitts der Monroe Street gewesen sein konnte.
James macht einen Schritt auf die Zimmertür zu. »Erzähl uns, was du willst«, erklärt er bitter. »Wenn dein Bruder stirbt, kommen wir zurück und hängen dir den Mord an.«
Der Junge sagt nichts mehr. Die beiden Detectives folgen dem Uniformiertennach draußen. Worden bezwingt seine Wut, bis sie im Cavalier
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