Homicide
noch einmal vernommen wurde, widerrief sie ihre ursprüngliche Aussage. Sie hatte aus Angst vor ihren Eltern gelogen, und aus demselben Grund hatten die beiden Jugendlichen keine medizinische Hilfe gesucht. Erst als die Eltern um acht Uhr am Abend zurückkehrten, wurde endlich ein Krankenwagen gerufen. Die Kinder hatten sich gedankenlos verhalten, und die Folgen waren tragisch, aber nach Wordens Meinung war dies beim besten Willen kein Mord.
Doch das Rechtsmedizinische Institut und insbesondere Julia Goodin waren nicht restlos überzeugt. Als oberster Rechtsmediziner wies Smialek darauf hin, dass die Kopfverletzungen schwer waren, zu schwer, als dass sie von einem Sturz vom Sessel stammen konnten. Aber Worden glaubte seinem jungen Zeugen, der gesagt hatte, das kleine Mädchen sei von der Sessellehne nach hinten gekippt und direkt auf die Lenkstange gefallen. Als dann die Detectives Tim Doory vom Büro des Staatsanwalts überredeten, keine Anklage zu erheben, bat Smialek dringend um einen Gesprächstermin. Das Rechtsmedizinische Institut werde seine Einschätzung nicht ändern, teilte er dem Staatsanwalt mit, und er sei besorgt, von außen könne es so aussehen, als würden die Detectives die Sache vertuschen, weil es ihnen widerstrebe, einen Zehnjährigen in einem Fall vor Gericht zu bringen, der nicht gewonnen werden könne.
Es war gewissermaßen eine Pattsituation, und Goodin hatte ein ganz schlichtes Problem: Ein Rechtsmediziner darf sich nicht irren. Nie und nimmer. Nicht einmal bei einem Vorabbefund. Denn es ist ein unumstößliches Gesetz, dass jeder Fehler eines Experten auf irgendeinem kriminaltechnischen Gebiet – sei es die Rechtsmedizin, die Spurensicherung, die Ballistik, die DNA-Analyse –, einmal öffentlich eingeräumt, sofort gierig von sämtlichen Strafverteidigern der Stadt ausgenutzt wird. Wenn auch nur ein einziges Mal die Meinung eines Experten infrage gestellt werden kann, dann wird jeder Anwalt darauf herumreiten, bis er am Ende seinen begründeten Zweifel präsentieren kann. Und in einem Fall, in dem es um den Tod eines zweijährigen Mädchens ging, war natürlich mit dicken Schlagzeilen zu rechnen.
»Zweijährige ermordet – keine Anklage«, verkündete die
Sun.
Die Zeitung zitierte D’Addario mit den Worten: »Es gibt durchaus Gründe, den Fall vor Gericht zu bringen, aber wir wissen faktisch nicht, was in dem Haus passiert ist … Wir müssen uns an die Entscheidung der Rechtsmedizin halten.«
Smialek lieferte ein Gegengewicht mit der Behauptung, dass die Aussagen der Babysitter »nicht mit den Verletzungen übereinstimmen . das Kind starb an den Folgen der Tat einer anderen Person.« Der Rechtsmediziner räumte jedoch ein, der Tod des Mädchens sei möglicherweise auf unglückliches menschliches Eingreifen zurückzuführen, aber man könne das nicht abschließend klären. Smialek gab sich große Mühe, einen Mittelweg zu finden, und wies mit wohlgewählten Worten darauf hin, dass die medizinische Beurteilung, es handle sich um Mord, nicht unbedingt eine Mordanklage nach sich ziehen müsse. Unterdessen fasste die Polizeisprecherin den Stand der Dinge kurz und knapp zusammen: »Sie wurde nicht ermordet. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Alles in allem hinterließ der Fall Tiffany Woodhous bei Worden unangenehme Empfindungen, da auf Tötungsdelikt erkannt worden war, aber keine Anklage erhoben wurde. Außerdem mussten sich jetzt Morddezernat und Rechtsmedizinisches Institut im grellen Licht der Öffentlichkeit wieder zusammenraufen, was, im Rückblick betrachtet, ziemlich typisch war für das Jahr, das Worden gerade erlebte.
Und jetzt, drei Wochen später, ist der Big Man mit einer anderenLeiche wieder in der Penn Street. Und niemand anderes als Julia Goodin wartet im Obduktionssaal auf ihn.
Die beiden Detectives schauen zu, wie ihre unbekannte Tote aus Billyland unter die Kamera im Vorraum geschoben wird. Worden bittet den Assistenten, den Reifenspuren auf dem linken Arm und dem oberen Teil des Rumpfes besondere Beachtung zu schenken. Eine Viertelstunde später folgen sie ihrem Opfer in den Obduktionssaal, wo auf dem ersten freien Platz – zwischen dem Opfer eines Brandes aus Prince George’s County und dem eines Autounfalls aus der Frederick – die äußere Beschau beginnt.
Doc Goodin arbeitet stets mit größtem Bedacht. Und nach dem Drama mit Tiffany Woodhous geht sie jetzt noch überlegter vor. Sie umkreist langsam die Leiche, registriert den Verlauf der Reifenspuren,
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