Homicide
seinem Team hatte schon einmal geglaubt, etwas am Tatort oder bei einer Durchsuchung zu sehen, und dann beim zweiten Hingucken festgestellt, dass es nicht mehr da war. Zum Teufel, vielleicht war es nie da gewesen. Oder es ist noch da, aber jetzt kannst du es nicht mehr sehen.
Das war der Stoff, aus dem der Albtraum ist, der immer wiederkehrendeTraum, der jedem guten Detective gelegentlich den Schlaf raubt. In den Tiefen des Albtraums geht er durch die bereits vertrauten Räume eines Hauses – vielleicht hat er einen Durchsuchungsbefehl, vielleicht nimmt er die Wohnung auch nur in Augenschein –, und dabei fällt ihm etwas auf. Was, zum Teufel, ist das? Etwas Wichtiges, das weiß er. Etwas, das er braucht. Ein Blutspritzer. Eine Patronenhülse. Der sternförmige Ohrring eines Kindes. Er kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber mit jeder Pore seines Körpers weiß er, dass dort der Beweis liegt. Aber er wendet den Blick einen Moment lang ab, und kaum sieht er wieder hin, ist es weg. Es ist eine Leerstelle im Unbewussten, eine verpasste Gelegenheit, die ihn verhöhnt. Dieser Albtraum ist der Schrecken junger Detectives. Manche erleben das Gefühl, dass ihnen der ganze Fall durch die Finger rinnt, sogar schon an ihrem ersten Tatort. Die Veteranen ärgern sich nur noch über solche Albträume. Sie haben so etwas schon zu oft durchgemacht, als dass sie noch jeder Stimme aus den Tiefen des Geistes Glauben schenken würden.
Bei diesem Fall jedoch hat der Albtraum Pellegrini fest im Griff. Eine Stimme hat ihm befohlen, sich den zweiten Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des Fish Man ausstellen zu lassen, ihn aufgefordert, genügend Gründe zu suchen, noch einmal durch eine Tür zu treten, die sich ihm schon einmal geöffnet hat. Es überrascht kaum, dass die Razzia im September den Fish Man so langweilt und so gleichgültig lässt wie die vorige. Auch war nirgendwo eine rote Teppichfaser zu finden. Pellegrini entdeckte den Rest, an den er sich zu erinnern glaubte, auf dem Schlafzimmerboden, aber wie sich herausstellte, war das Teil aus Plastik, ein Außenteppich, eine Art Kunstrasen in Rot. Und auch ein kleiner blauer Ohrstecker, der in einer Ecke des Wohnzimmers gefunden wurde, bringt für die Ermittlungen nichts. Als Detectives ein paar Tage später noch einmal Kontakt zur Familie von Latonya Wallace aufnehmen, kann sich niemand erinnern, dass das junge Mädchen jemals zwei verschiedene Ohrringe trug. Da sie in einem Ohrläppchen einen sternförmigen Stecker getragen hatte, war es vernünftig, davon auszugehen, dass auch ein sternförmiger Stecker fehlte. Um ganz sicher zu sein, nahm sich Pellegrini einen Cavalier und fuhr den blauen Ohrstecker zur Mutter des Mädchens. Sie schien ein wenig überrascht, dass nach sieben Monaten immer noch an dem Fall gearbeitetwurde, bestätigte jedoch, dass der blauer Ohrring nicht ihrer Tochter gehörte.
Hinter jeder Ecke des Labyrinths tat sich ein neuer Gang auf. Eine Woche nach der zweiten Durchsuchung in der Whitelock Street hatte es Pellegrini eine ganze Weile mit einem Autodieb zu tun, der im Juli von der Polizei des Baltimore County verhaftet worden war. Der Dieb, ein verstörter junger Mann, der schon seit geraumer Zeit psychisch krank war, hatte im Untersuchungsgefängnis des County dreimal versucht, sich umzubringen, und schließlich war er gegenüber einem Wachmann damit herausgeplatzt, dass er jemanden kenne, der in der Stadt zwei Morde begangen habe. Das eine war ein Drogenmord in einer Bar in Northwest Baltimore. Bei dem anderen handelte es sich um den Tod eines kleinen Mädchens in Reservoir Hill.
Howard Corbin fuhr zu einem ersten Gespräch ins County. Als er zurückkehrte, konnte er mit der Geschichte von einer zufälligen Begegnung hinter dem 800er-Block in Newington aufwarten. Der Autodieb hatte gesagt, er habe dort mit seinem Cousin Kokain gesnifft. Dabei sei ein junges Mädchen vorbeigekommen, und sein Cousin habe etwas zu dem Mädchen gesagt. Das Mädchen – das eine Schultasche bei sich trug und die Haare zu Zöpfen geflochten hatte – erwiderte etwas, und der Autodieb hatte den Eindruck, dass sie sich kannten. Doch als sein Cousin aufsprang und das Mädchen packte, bekam er Angst und machte sich aus dem Staub. Als Corbin ihm ein Foto von Latonya Wallace zeigte, begann der junge Mann zu weinen.
Allmählich kam nun Leben in das Bild. Der Autodieb hatte tatsächlich einen Cousin in der Newington Nummer 820, und der Cousin hatte tatsächlich ein erhebliches
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