Homicide
ist schon schwer genug, einen guten Menschen zu finden, aber zwölf auf einen Schlag, das grenzt an ein Wunder.
Ein Detective, der sich nicht mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber dem amerikanischen Justizsystems gewappnet hat, bevor er sich in die Flure eines Gerichtsgebäudes begibt, läuft ins offene Messer. Es ist schon schlimm genug, mit anzusehen, wie zwölf rechtschaffene Bürger Baltimores hervorragende Polizeiarbeit zunichte machen, doch wie viel härter wäre es, dies unvorbereitet und naiv zu erleben. Besser, man ist sich darüber im Klaren, was einen hinter den Türen des Gerichtsgebäudeserwartet und man betritt seine schimmernden Korridore im Vorgefühl eines Debakels, das sicher nicht ausbleibt.
Der Fels – und es ist ein guter, ehrenwerter Fels –, auf dem unser Rechtssystem erbaut ist, besteht in der Annahme, dass ein Angeklagter unschuldig ist, solange nicht ein Dutzend seinesgleichen ihn durch einmütiges Votum für schuldig befindet. Besser einhundert Schuldige laufen frei herum, als dass auch nur ein einziger Unschuldiger bestraft wird. Tja, so gesehen leistet die Justiz von Baltimore ganze Arbeit.
Man bedenke: In diesem einem Jahr, von dem wir hier berichten, werden den Staatsanwälten von Baltimore die Namen von 200 mutmaßlichen Tätern in Verbindung mit 170 Tötungsdelikten vorgelegt.
Und das wird aus diesen 200 mutmaßlichen Tätern:
– Fünf Fälle warten zwei Jahre später noch auf den Prozess. (In zweien davon werden Haftbefehle ausgeschrieben, die Gesuchten aber nie gefasst.)
– Fünf sterben vor Prozessbeginn oder bei der Verhaftung. (Drei begehen Selbstmord, eine Frau kommt in einem Feuer um, das sie in Mordabsicht selbst gelegt hat, einer kommt bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben.)
– Sechs werden gar nicht erst angeklagt, weil die Staatsanwälte befinden, es habe sich um legitime Selbstverteidigung oder Unfälle gehandelt.
– Zwei Beschuldigte werden als schuldunfähig der staatlichen Psychiatrie übergeben.
– Die Fälle von drei Beschuldigte, die noch keine siebzehn Jahre alt sind, werden an das Jugendgericht überwiesen.
– In sechzehn Fällen wird am Ende wegen mangelnder Beweise keine Anklage erhoben. (Gelegentlich riskiert es ein Detective, einen Fall trotz dünner Beweislage vor Gericht zu bringen, weil er hofft, den Tatverdächtigen durch die Untersuchungshaft mürbe zu machen und ihm so ein Geständnis abzuringen.)
– Bei vierundzwanzig Beschuldigten wird das Verfahren durch ein sogenanntes »Nolle prosequi« eingestellt oder vorläufig ausgesetzt. (Unter einem Nolle prosequi versteht man den endgültigen Verzicht, eine Sache vor eine Grand Jury zu bringen; bei einer Aussetzungbleibt das Verfahren einstweilen in der Schwebe, kann aber innerhalb eines Jahres wieder aufgenommen werden, falls sich neue Erkenntnisse ergeben. Die meisten ausgesetzten Verfahren enden aber nach Ablauf dieser Frist mit einer Einstellung.)
– Bei drei Beschuldigten lässt man die Anklage fallen oder setzt die Strafverfolgung befristet aus, nachdem sich herausgestellt hat, dass sie nichts mit den ihnen zur Last gelegten Taten zu tun haben. (Die Forderung, dass jemand bis zu seiner Verurteilung als unschuldig zu gelten hat, erweist sich gerade in Marylands größter Stadt als gerechtfertigt, denn bei Gewaltverbrechen geraten zunächst nicht selten die Falschen ins Visier oder werden sogar vor Gericht gestellt, wie zum Beispiel im Fall der Schüsse auf Gene Cassidy, aber auch bei drei Morden, in denen Stantons Schicht ermittelt hatte. In diesen drei Fällen wurden aufgrund unzutreffender Aussagen, einmal vom Opfer, zweimal von Tatzeugen, die Falschen beschuldigt. Erst im Verlauf der weiteren Ermittlungen konnten sie entlastet werden. Dass ein Unschuldiger auf der Grundlage zweifelhafter Beweise einer Tat bezichtigt wird, kann recht schnell geschehen, und ist es einmal passiert, hat eine Grand Jury auch rasch Anklage erhoben. Dass der falsche Mann dann auch im Gefängnis landet, ist jedoch kaum zu erwarten. Schließlich ist es für die Strafverfolger in Baltimore alles andere als einfach, selbst einen Schuldigen hinter Gitter zu bringen. Damit ein Unschuldiger verurteilt wird, müsste sein Verteidiger schon in völliger Verkennung einer schwachen Beweislage seinen Klienten zu einem Deal auf Basis eines Schuldeingeständnisses überredet haben.)
Schuldig oder unschuldig, lebendig oder tot, schuldunfähig oder voll verantwortlich – nach dieser ersten
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