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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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dafür nur die leisesten Anspielungen. Aber ausgesprochen oder nicht, Rassenfragen stehen immer mit auf der Tagesordnung, wenn zwölf Bürger von Baltimore die Tür eines Beratungszimmers hinter sich schließen. Selten treten sie so deutlich zutage wie in jenem Fall, in dem eine schwarze Verteidigerin an ein komplett schwarzes Geschworenengremium gewendet auf ihren Unterarm zeigte und sehr zum Unmut von zwei weißen Detectives auf den Zuschauerbänken sagte: »Brüder und Schwestern, ich glaube, wir wissen alle, worum es in diesem Fall wirklich geht.«
    Allerdings wäre es nun falsch zu glauben, dass die Jurys in Baltimore mildere Urteile fällen, seit sie mehrheitlich mit Schwarzen besetzt sind. So tief das Misstrauen gegenüber dem Rechtssystem in der schwarzen Gemeinde auch wurzelt, erfahrene Staatsanwälte werden einem sagen,dass einige der besten Geschworenengremien, die die Stadt je hatte, komplett mit Schwarzen besetzt waren, während in einigen der schlechtesten und unengagiertesten eine weiße Mehrheit saß. Nein, es ist etwas ganz anderes, etwas, das über alle Rassengrenzen hinausreicht, das dem Geschworenensystem in Baltimore wirklich großen Schaden zugefügt hat: das Fernsehen.
    Man greife sich willkürlich zwölf Einwohner und Einwohnerinnen von Baltimore heraus – ganz gleich ob aus schwarzen Stadtteilen wie Ashburton und Cherry Hill oder aus weißen wie Highlandtown und Hamilton –, und die Chance ist groß, dass man darunter nur wenige kluge, einsichtsvolle Bürger findet. Einige der zwölf haben die Highschool abgeschlossen, einer oder zwei waren vielleicht sogar auf dem College. Die meisten haben einfache Jobs – nur wenige eine richtige Ausbildung. Baltimore ist eine Arbeiterstadt, ein Ausläufer des Rust Belt der Ostküste, des Industriegürtels, der sich nie richtig vom Niedergang der amerikanischen Stahlindustrie und des Schiffbaus erholt hat. Die Arbeitslosenquote ist hoch, das Bildungsniveau im Vergleich zu anderen amerikanischen Städten niedrig. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wandern steuerzahlende Bürger ab. Die übergroße Mehrheit der weißen und schwarzen Mittel- und Oberschicht Baltimores wohnt inzwischen außerhalb der Stadtgrenzen. Und diese Leute stellen dann die Geschworenen der Countys rund um Baltimore.
    Die Folge davon ist, dass die meisten Stadtbewohner den Geschworenensaal mit Vorstellungen von Schuld und Sühne betreten, die sie hauptsächlich aus billigen Fernsehgeräten bezogen haben. Die Glotze, nicht der Staatsanwalt, nicht der Verteidiger, und ganz gewiss nicht die Beweisführung, bestimmt das Denken eines Geschworenen in Baltimore. Die naiven Vorstellungen, die sich viele Geschworene von ihrer Arbeit machen, stammen geradewegs aus dem Fernsehen. Am liebsten würden sie den Mord hautnah erleben, ihn aus nächster Nähe sehen, zumindest als Videoaufnahme in Zeitlupe, und wenn nicht das, so soll der Täter doch, bitte schön!, im Zeugenstand auf die Knie sinken und um ein mildes Urteil betteln. Zwar werden nur bei zehn Prozent aller Verbrechen Fingerabdrücke gefunden, dennoch erwartet der durchschnittliche Geschworene Fingerabdrücke auf der Schusswaffe, Fingerabdrücke auf dem Messer, Fingerabdrücke auf jeder Türklinke, jederFensterscheibe, jedem Schlüssel. Obwohl die Spurensicherung nur selten den entscheidenden Beitrag leistet, verlangt ein Geschworener Haare und Gewebefasern, Schuhsohlenabdrücke und alles, was die Kriminaltechnik, wie sie in den zahllosen Wiederholungen von
Hawaii Fünf-Null
dargestellt wird, sonst noch zu bieten hat. Wird ihnen ein Fall mit reichlich Zeugen und handfesten Beweisen vorgelegt, dann verlangen die Geschworenen auch noch ein Motiv, einen Grund, einen Sinn für den Mord, selbst wenn er faktisch längst bewiesen ist. Und ringen sie sich dann endlich zu der Erkenntnis durch, dass der Richtige für den richtigen Mord geschnappt worden ist, wollen sie auch noch überzeugt sein, dass der Angeklagte wirklich ein böser Mensch ist, weil sie die Gewissheit brauchen, dass sie selbst, die ihm so etwas Schreckliches wie das Gefängnis antun, keinesfalls böse Menschen sind.
    Im wirklichen Leben ist es aber oft unmöglich, die absolute Gewissheit über ein Verbrechen und den Täter zu liefern, wie das im Fernsehen dargestellt wird. Und es ist nicht leicht, einen Geschworenen von dieser Vorstellung abzubringen, obwohl erfahrene Strafverfolger es immer wieder versuchen. So rufen die Staatsanwälte Baltimores auch dann, wenn keine

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