Homicide
sagen, meinten die Geschworenen, dass der Angeklagte mehr als einmal auf das Opfer eingestochen hatte. Und so konnte man nicht ausschließen, dass irgendwann später ein Durchgeknallter vorbeikam, das Messer aufhob und die Tat vollendete.
Geschworene debattieren nicht gerne. Sie denken nicht gerne nach. Sie sitzen nicht gerne stundenlang herum und kauen Beweise, Zeugenaussagen und die Plädoyers von Anwälten durch. Nach Ansicht der meisten Detective des Morddezernats drücken sich die Geschworenen gerne vor ihrer Aufgabe, ein Urteil zu fällen. Schließlich ist es ein mühseliges und unerfreuliches Geschäft, so ein Verfahren, das Menschen zuMördern und Kriminellen erklärt. Die Geschworenen möchten lieber nach Hause gehen, diese ganze Geschichte vergessen, sich ausschlafen. Unser Rechtssystem schließt einen Schuldspruch aus, solange es begründete Zweifel an der Schuld eines Angeklagten gibt. Tatsache aber ist, dass Geschworene den Zweifel lieben, und so wird unter dem Druck im Beratungszimmer der Geschworenen schließlich jeder Zweifel zu einem begründeten, mit dem sich ein Freispruch rechtfertigen lässt.
Der begründete Zweifel ist stets das schwächste Glied in der Beweiskette eines Staatsanwalts, und je komplizierter ein Fall, desto mehr Zweifel kommen auf. Aus diesem Grund ziehen die meisten kampferprobten Staatsanwälte ein simples Tötungsdelikt mit einem oder zwei Zeugen vor, bei dem es nicht viel darzustellen und einer Jury nicht viel zu erklären gibt. Entweder die Geschworenen glauben den Zeugen oder nicht, aber zumindest muss man sie nicht beknien, gründlich nachzudenken, und ihre Geduld strapazieren. Bei den verwickelteren Fälle hingegen – jenen, an denen ein Detective Wochen und Monate gebastelt hat, um einen ganzen Berg nicht ganz so glänzender Beweise aufzubieten, und in denen der Staatsanwalt sein Plädoyer so sorgfältig wie ein Mosaik zusammensetzen muss –, in diesen Fällen können die Geschworenen alles zunichte machen.
Denn zumindest in Baltimore hat der durchschnittliche Geschworene keine Lust, lange über die Ungereimtheiten in den Einlassungen eines Beschuldigten nachzudenken oder ein Gespinst von Zeugenaussagen zu zerpflücken, die systematisch ein Alibi zerstören. Er mag nicht über die Unstimmigkeiten zwischen dem Gutachten des Rechtsmediziners und den Aussagen des Angeklagten nachdenken. Das ist ihm alles viel zu kompliziert und zu abstrakt. Der durchschnittliche Geschworene hat am liebsten drei unmittelbare Augenzeugen der Tat und zwei weitere, die ihm die Motive des Mörders erklären. Hat man noch ein paar Kleinigkeiten wie die Mordwaffe, Fingerabdrücke und einen DNA-Treffer, ja dann, Herrgott, hat man auch Geschworene, die ohne Skrupel einen Schuldspruch fällen.
Für einen Detective steckt aber gerade in den Indizienfällen die meiste Arbeit, und aus diesem Grund hat die Regel 9b besondere Bedeutung. Bei einem sonnenklaren Fall, einem so genannten Dunker,läuft der Prozess erwartungsgemäß wie geschmiert. Aber in seinen besten Fällen – jenen, auf die ein Cop im Rückblick stolz ist – bekommt er gewöhnlich miese Geschworene.
Wie in allen Teilen des Justizapparats spielen auch im Geschworenensystem Baltimores Rassenfragen eine Rolle. Da die übergroße Mehrheit der Gewaltverbrechen von Schwarzen an Schwarzen begangen wird und sich die Geschworenen aus einer zu 60 bis 70 Prozent schwarzen Bevölkerung rekrutieren, ist den Strafverfolgern durchaus bewusst, dass jedes Verbrechen durch die Brille des historisch begründeten Misstrauens gegenüber einer Polizei und Gerichten, die weitgehend von Weißen kontrolliert werden, gesehen wird. Daher wird in vielen Fällen Wert darauf gelegt, dass auch ein schwarzer Officer oder Detective eine Zeugenaussage vor Gericht macht. Sie soll ein Gegengewicht zu einem meist jungen Tatverdächtigen bilden, der auf Anraten seines Anwalts im Sonntagsstaat und mit der Familienbibel unterm Arm im Verhandlungssaal erscheint. Dass die Opfer ebenfalls Schwarze sind, zählt kaum; schließlich sind sie ja nicht zugegen, können also auch keine gute Figur vor den Geschworenen machen.
Dass Rassenfragen Einfluss auf das Justizsystem haben, wird von Staatsanwälten und Verteidigern, schwarzen wie weißen, offen zugegeben, wenn auch das Thema vor Gericht nur selten direkt zur Sprache kommt. Gute Anwälte, gleich welcher Hautfarbe, halten es nicht für nötig, Geschworene mittels der Rassenfrage zu manipulieren. Die weniger guten brauchen
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