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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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und die gleichen Helfer aus der Rechtsmedizin wuchteten eine diesmal schwerere Leiche nach oben – nur dass sie jetzt ihre Handgelenke sorgfältig auf Namensbänder prüfen.
    »Dieser hier sieht ihm irgendwie ähnlicher«, sagt Waltemeyer zuversichtlich nach einem Blick auf das Foto.
    »Hab ich’s nicht gesagt?«, meint der Verwalter stolz.
    Aber dann zieht einer von der Rechtsmedizin dem Toten den linken Socken aus und legt die verbliebene Hälfte des Zehenanhängers eines Krankenhauses frei. W – I – L sind die einzigen noch erkennbaren Buchstaben. Wilson? Williams? Wilmer? Wer weiß das schon, und wen interessiert es, wenn es nicht Rayfield Gilliard ist.
    »Mr. Brown«, erklärt Waltemeyer, der verwundert den Kopf schüttelt. »Sie sind eine echte Kanone.«
    Der Verwalter zuckt die Achseln. Dann meint er, für ihn sehe dieser Mann wie der richtige aus. »Vielleicht haben sie ihm den falschen Namen angehängt«, schlägt er vor.
    »Herr im Himmel«, sagt Waltemeyer. »Ich muss hier weg. Sonst kann ich für nichts garantieren.«
    Auf dem Weg zum Ausgang taucht plötzlich einer der Totengräber neben Waltemeyer auf. Der Arbeiter bestätigt ihm leise, was er schon befürchtet hatte. Im Frost und Schnee des vergangenen Februars hatte der Verwalter unten am Bach ein Gemeinschaftsgrab ausheben lassen, da sie mit dem Schaufelbagger dort hinfahren konnten, ohne dass er stecken blieb. Dann hatten sie acht, neun Särge in die gleiche Grube gelassen. So sei es einfacher, hatte der Verwalter gemeint.
    Waltemeyer blinzelt in die Morgensonne, als der Totengräber mit seiner Geschichte zum Ende kommt. Mit zusammengekniffenen Augen lässt er den Blick über die kahle Landschaft gleiten. Vom Friedhofseingang am höchsten Punkt des Hügels sieht man einen Großteil der Skyline Baltimores: das Trade Center, das Gebäude der USF&G-Versicherung, das Hochhaus der Maryland Bank. Die steinernen Türme von Mobtown, wie Baltimore oft genannt wird, die Harbor City, das Land des guten Lebens, wie es in der Bierwerbung so schön heißt, und der einzige Ort, an dem es sich zu leben lohnt, wie die Einheimischen gerne sagen.
    Doch was war mit Barney Erely? Oder mit Orlando Felton? Und Maurice Ireland? Waren sie so fehlgeleitet und unbedeutend, dass sie hier auf diesem elenden Modderstück im Umland enden mussten? Überflüssig Menschen im Schatten der schimmernden Wolkenkratzer, nahe genug, um sie zu verhöhnen. Säufer, Drogensüchtige, Drogenhändler, Drogenkuriere, den falschen Eltern geborene Kinder, verprügelte Ehefrauen, verhasste Ehemänner, Ausgeraubte, ein oder zwei unbeteiligtePassanten, die Söhne Kains, die Opfer Kains – Männer und Frauen, die die Stadt in einem Jahr zu beklagen hatte, die an Tatorten herumlagen und die Kühlfächer in der Penn Street füllten und nichts anderes hinterließen als einen in Rot oder Schwarz geschriebenen Namen auf der Tafel im Polizeipräsidium. Geburt, Armut, ein gewaltsamer Tod und dann ein anonymes Grab im Schlamm von Mount Zion. Zu Lebzeiten hatte die Stadt mit diesen Verlorenen nichts anfangen können, im Tod aber ließ sie sie völlig im Stich.
    Gilliard und Dale, Ereley und Ireland – sie alle waren unwiderruflich verschwunden. Selbst wenn es jemanden gab, der sie retten und die Erinnerung an sie auf einem anständigen Friedhof mit einem anständigen Grabstein wachhalten wollte, es war nicht mehr möglich. Dafür hatten die fehlende Grabmarkierung und die erbärmliche Dokumentation des Friedhofsverwalters gesorgt. Eigentlich müsste die Stadt den von ihr Vergessenen ein Denkmal setzen – vielleicht als »Grab des Unbekannten Opfers«, aufgestellt an der Ecke Gold und Etting, mit einem Polizisten als Ehrenwache. Man könnte davor noch ein paar Patronenhülsen verstreuen und dann jede halbe Stunde mit Kreide eine neue menschliche Silhouette aufs Pflaster malen. Die Kapelle der Edmondson High School spielt den Zapfenstreich, und Touristen zahlen einen Dollar und einen Quarter.
    Verlierer im Leben, und dann noch Verlierer im Tod. Dafür haben die für Mount Zion verantwortlichen Volltrottel gesorgt, denkt Waltemeyer, während er einen letzten Blick über die Schlammlandschaft wirft. Für zweihundert Dollar pro Leiche war dieser »Verwalter« bereit, sie in jedem Loch zu verscharren, das er finden konnte, denn die Vorstellung, dass jemand kam und einen von ihnen zurückfordern könnte, erschien ihm wohl einfach lächerlich. Waltemeyer denkt an seine erste Begegnung mit dem Mann. Dem armen

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