Homicide
Mann brachte es mit einer Gelassenheit vor, die schon an Kühnheit grenzte, und er behauptete es immer noch, als Rick James und Eddie Brown im Krankenhaus eintrafen. Im Vernehmungsraum wiederholte er es wie ein Mantra die ganze Nacht über. Michael war in der Badewanne. Michael ist ausgerutscht.
»Warum haben Sie ihn erst noch angezogen? Warum sind Sie nicht gleich mit ihm ins Krankenhaus gefahren?«
Ich wollte nicht, dass er friert.
»Wenn er gebadet hat, warum war dann kein Wasser in der Wanne?«
Ich habe es ablaufen lassen.
»Was haben Sie? Das Kind ist bewusstlos, und Sie nehmen sich die Zeit, das Wasser aus der Wanne ablaufen zu lassen?«
Ja.
»Sie haben ihn totgeprügelt.«
Nein. Michael ist ausgerutscht.
Doch die Ärzte in Bon Secours ließen sich nicht in die Irre führen. Michael Shaws kleine Leiche war mehr schwarz und blau als braun, und seine Verletzungen sahen eher so aus, als sei ein Auto mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern über ihn hinweggerollt. Auch die Rechtsmediziner in der Penn Street haben keinen Zweifel: Tod aufgrund multipler Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung. Dem Kind wurde das Leben sprichwörtlich aus dem Leib geprügelt.
Doch erst als die Rechtsmediziner mit der äußerlichen Untersuchung des Kindes beginnen, kommt in Rick James wirklich der Abscheu hoch.
»Sehen Sie das?«, fragt die Ärztin, die die Beinchen angehoben hat. »Richtig zerfetzt.«
Welch ein Horror! Der zweijährige Junge hatte innere Blutungen erlitten, als ihm der Anus durch seinen zwanzigjährigen Babysitter, den Geliebten der Mutter, aufgerissen wurde.
Den Kadetten aus Arundel steht der Mund offen. Ihre Augen schwimmen in Tränen, während sie, gefangen in der Ecke des Autopsieraums, mit ansehen müssen, wie der Junge obduziert wird. Das wird ihnen für den Tag reichen.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium sagt James nichts mehr. Mein Gott, was gibt es da auch zu sagen? Es war nicht mein Kind, versucht er sich zu beschwichtigen. Es ist nicht in der Nachbarschaft meiner Wohnung passiert. Es hat nichts mit mir zu tun.
Die gängige Abwehr, die übliche Zuflucht des Mordermittlers. Nur dass es diesmal irgendwie nicht ausreicht. Diesmal gibt es keine dunkle Grube, in der er seine Wut vergraben kann.
Im Morddezernat angekommen, geht James von den Fahrstühlen den langen blau gestrichenen Korridor entlang, dann späht er durch das Maschendrahtfenster des Vernehmungsraums. Der Verdächtige sitzt dort allein auf dem mittleren Stuhl, hat sich weit zurückgelehnt und drückt die Sohlen seiner Sneakers gegen die Tischkante.
»Sehen Sie«, sagt James zu einem Uniformierten, der wegen eines Gefangenentransports ins Präsidium gekommen ist. »Sehen Sie sich den nur an!«
Der junge Mann pfeift leise vor sich hin und nestelt in aller Seelenruhe und mit großer Sorgfalt an seinen Tennisschuhen herum. Trotz der hinderlichen Handschellen bindet er sich die offenbar neuen Schnürsenkel, im aktuellen Stil des Ghettos je ein gelber und ein grüner pro knöchelhohem Schuh. Zwei Stunden später wird sie ihm der Schließer der Haftzellen im Southwestern zur Verhütung eines Selbstmordversuches wieder herausziehen; im Augenblick aber stehen sie im Mittelpunkt des geschrumpften Universums des Tatverdächtigen.
»Sehen Sie ihn sich an«, wiederholt James. »Hat man da nicht größte Lust, sich den Kerl mal so richtig vorzuknöpfen?«
»Mensch«, sagt der Uniformierte. »Meinen Segen haben Sie.«
James betrachtet den Streifenpolizisten, dann blickt er wieder durch das Fenster in den Vernehmungsraum. Der junge Mann hat die Schatten hinter dem Spiegelglas bemerkt und sich umgedreht.
»He! Hallo!«, ruft er in weichem karibischen Tonfall. »Muss aufs Klo!«
»Sehen Sie ihn sich nur an«, sagt James noch einmal.
Er könnte ihn zusammenschlagen. Er könnte ihn verprügeln, bis ihm die Haut in Fetzen herunterhängt, und keiner im Büro würde ein Wort sagen. Die Streifenpolizisten würden sich weiter mit ihrem Papierkram beschäftigen, die anderen Detectives würden den Flur blockieren und vielleicht auch mal kurz selbst mit Hand anlegen. Und wenn der Colonel auf den Flur käme, um zu sehen, was der Rummel zu bedeuten hat, bräuchten sie ihm nur von dem kleinen Michael Shaw zu erzählen, der still und stumm auf dem langen Edelstahltisch liegt.
Und was wäre so falsch daran? Könnte man eine solche schlichte und direkte Vergeltung anders als gerecht bezeichnen? Für einen Cop ist es eine Frage der Ehre,
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