Homicide
Bundesbehörde hatte man ihn ins Morddezernat zurückgerufen. Wieder im routinemäßigen Schichtdienst zurück, hämmert er jetzt seinen Tagesbericht zu etwas so Banalem und Undramatischem wie einem Selbstmord in die Tasten, was der Rest der Schicht mit unverkennbarer Schadenfreude kommentiert.
»Harry, was machst du da an der Schreibmaschine?«
»He!, Harry, du hast doch nicht etwa einen Einsatz angenommen?«
»Wann kriegst du deinen nächsten Sonderauftrag, Harry?«
Edgerton zündet sich eine Zigarette an und lacht. Nach all seinen Extratouren musste er sich das gefallen lassen.
»Verdammt lustig«, sagt er grinsend. »Ihr seid ’ne echte Komikertruppe.«
Bob Bowman, der an der zweiten Schreibmaschine seinen eigenen Bericht verfasst, beugt sich vor und liest die Überschrift auf Edgertons Formular.
»Selbstmord? Du bist zu einem Selbstmord rausgefahren, Harry?«
»Ja.« Edgerton geht auf das Spiel ein. »Da siehst du, was passiert, wenn man ans Telefon geht.«
»Und das machst du bestimmt nicht wieder.«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Wusste gar nicht, dass du für Selbstmord zugelassen bist. Ich dachte, du übernimmst nur große Fälle.«
»Manchmal muss man sich eben unters Volk mischen.«
»He!, Rog«, ruft Bowman, als sein Teamleiter ins Büro kommt. »Wusstest du, dass Harry zu einem Selbstmord ausgerückt ist?«
Roger Nolan grinst. Edgerton macht zwar hin und wieder Probleme, doch da er gute Arbeit leistet, ist Nolan bereit, über seine Eigenheiten hinwegzusehen. Außerdem hat Edgerton mehr als nur einen simplen Selbstmord auf dem Tisch. Er hat außerdem den ersten Mord des Jahres von Nolans Team am Hals, ein brutales Verbrechen im Northwestern District, das allem Anschein nach nicht einfach aufzuklären sein wird.
Zwei Wochen zuvor, im ersten Abschnitt der Nachtschicht, stand Edgerton vor Brenda Thompson, einer Frau mit Übergewicht und einem traurigen Gesicht, die ihre achtundzwanzig Lebensjahre auf dem Rücksitz eines viertürigen Dodge ausgehaucht hatte, den man mit laufendem Motor in Höhe des 2400er-Blocks auf dem Garrison Boulevard vor einer Bushaltestelle und einer Telefonkabine fand.
Der Tatort beschränkte sich im Wesentlichen auf den Wagen. Das Opfer saß zusammengesunken auf dem Rücksitz. Ihr T-Shirt und BH waren hochgeschoben, sodass sich etwa ein Dutzend oder mehr Stichwunden zeigten. Den Inhalt ihrer Handtasche hatte der Mörder auf den Boden gekippt, was auf einen Raubüberfall hindeutete. Darüber hinaus gab es jedoch keine Spuren – keine Fingerabdrücke, keine Haare oderFasern, keine Hautrückstände und Blutreste unter den Fingernägeln des Opfers. Da auch Zeugen fehlten, musste sich Edgerton auf langwierige Ermittlungen einstellen.
In den vergangenen zwei Wochen hatte Edgerton Brenda Thompsons letzte Stunden nachzuvollziehen versucht. Am Abend ihres Todes hatte sie von dem Trupp jugendlicher Straßendealer, die für ihren Ehemann auf der Pennsylvania Avenue Heroin verkauften, Geld eingetrieben. Drogen waren also ein mögliches Motiv, aber Edgerton konnte auch einen simplen Raub nicht ausschließen. Deshalb war er an diesem Nachmittag am anderen Ende des Flurs im Raubdezernat gewesen und hatte Akten über Messerattacken im Northwestern durchgelesen, damit er nichts übersah.
Dass Edgerton eine neue Mordermittlung übernommen hat, wird kaum wahrgenommen. Ebenso wenig, dass er den Selbstmord bearbeitete, ohne sich weiter zu beschweren. Für sein Team, insbesondere für Bowman und Kincaid, ist und bleibt Edgertons Arbeitspensum ein Ärgernis. Und als ihr Sergeant weiß Nolan, dass es nur noch schlimmer werden kann. Nolan muss dafür sorgen, dass sich seine Detectives nicht gegenseitig an die Gurgel gehen, und daher kann er auch besser als jeder andere Anwesende die leisen Spitzen hören, die in ihrem Geplänkel durchklingen.
Bowman vor allem kann es nicht lassen. »Wo kommen wir nur hin, wenn Harry loszieht und einen Selbstmord bearbeitet?«
»Mach dir keine Sorgen«, erwidert Edgerton. »Wenn der Fall durch ist, habe ich für dieses Jahr meine Pflicht und Schuldigkeit getan.«
Da muss selbst Bowman lachen.
ZWEI
Donnerstag, 4. Februar
S ie sehen nur so aus wie Tränen, die Regentropfen, die sich zu kleinen Perlen sammeln und in ihre Grübchen kullern. Die dunkelbraunen Augen sind weit geöffnet und blicken starr über den nassen Asphalt. Pechschwarze Zöpfe rahmen das dunkelbraune Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der kecken Stupsnase ein. Die
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