Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
vermute, dass es in seinem Gehirn zu einer Art Kurzschluss gekommen ist, wobei sein Aggressionszentrum übermäßig gereizt beziehungsweise aktiviert wurde.“
„Mit anderen Worten, Sie haben keine Ahnung, Professor. Wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass bei den anderen Kieselsteinen das Gleiche passiert?“
„Das kann ich nicht abschätzen, wir müssen aber jederzeit mit etwas Ähnlichem rechnen. Was sollen wir tun?“
„Vorerst gar nichts, wir melden uns bei Ihnen, auf Wiedersehen.“ Nachdem die Verbindung unterbrochen war, schwieg Dérúgo Feng einen Moment, dann wandte er sich an To Zhang.
„Wir lösen das Labor in London auf, das wollte ich schon seit 2022 tun, das Personal wird nach Peking umgesiedelt. Die letzten sechs Kieselsteine werden eliminiert. Sämtliche Daten und Unterlagen zur ersten Serie werden gelöscht beziehungsweise vernichtet. Das alles soll innerhalb eines Monats erledigt sein. Du fliegst sofort nach London und kümmerst dich darum.“
Während Feng noch sprach, rief To Zhang über sein myCom alle Informationen zum Labor ab. „Beim Personal handelt es sich inklusive Professor Jeong um vierzehn Personen, die alle als Geheimnisträger eingestuft sind. Wie ist zu verfahren, wenn einer von ihnen nicht umsiedeln will?“
Fengs Blick war Antwort genug.
Im Sommer 2033 befand sich Professor Ralph Ferguson auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Seit drei Jahren war er Nobelpreisträger und längst galt er als einer der führenden Molekulargenetiker. Den Nobelpreis für Medizin hatte er für seine Arbeiten im Rahmen der Entschlüsselung des menschlichen Chromosoms Nummer zehn und der Identifikation einer Vielzahl von Genen auf diesem Chromosom erhalten.
Grundlage dafür war die Entwicklung einer Technik, die ihm erlaubte, während der Zellteilung aktive Genabschnitte zu identifizieren.
Seit er Tobias kannte und von dessen Begabung, Muster in codierten Strukturen zu erkennen, wusste, trafen sich die beiden regelmäßig. Zunächst wollte Tobias vor allem seine Erbkrankheit verstehen und Ferguson hatte sich gefragt, ob Tobias nur verzweifelt nach Heilung suchte.
Nachdem Tobias verstanden hatte, wie eine DNA aufgebaut war, wie die genetische Codierung funktionierte, wie die Verschmelzung von Eizelle und Spermium verlief und wie es zu Spontanmutationen kam, interessierte ihn nur noch, nach welchen Mustern sich die Basenpaare, die Grundelemente der DNA, anordneten.
Ferguson war fasziniert davon, wie Tobias Kolonnen von Basenpaaren, umgangssprachlich DNA-Stränge, am Bildschirm vorbeiziehen ließ, um plötzlich Stopp zu sagen und auf ganz spezielle Kombinationen hinzuweisen. Tobias’ Fähigkeit, auffällige Strukturen aufzuspüren, funktionierte auch bei der DNA.
Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte Ferguson Tobias eine DNA-Sequenz mit bekannten Defekten gezeigt, jedoch ohne ihm dies vorher zu sagen. Tobias fielen die Defekte sofort auf, ohne dass er erklären konnte, warum er sie merkwürdig fand. Es war lediglich ein Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Die beiden so unterschiedlichen Männer entwickelten eine Art Freundschaft. Auch wenn sie sich emotional nicht nahekamen, sahen sie sich als Freunde und hielten selbst in längeren Phasen, in denen sie sich nicht trafen, Kontakt zueinander.
Ihr Treffen an diesem Donnerstag, dem 20. Juli 2033, neigte sich bereits dem Ende zu, als Ferguson eine neue DNA-Sequenz auf die Projektionsfläche rief.
„Tobias, ich hab noch etwas außerhalb des Programms. Ich habe da so einen Verdacht. Es handelt sich um den Abschnitt FGF-8 auf dem Chromosom 10. Dieser Fibroblast Growth Factor spielt eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung der Extremitäten während der Embryonalzeit, außerdem vermute ich, dass er das Muskelwachstum beeinflusst.“ Er startete die Sequenz und beobachtete Tobias, wie er die vorbeiziehenden Kombinationen an Basenpaaren verfolgte.
Sie hatten ein spezielles Programm entwickelt, mit dem Tobias lediglich durch Fixierung eines Basenpaares mit den Augen ausgewählte Bereiche markieren konnte. Zuerst geschah gar nichts, dann plötzlich markierte Tobias einen Abschnitt mit einer Länge von etwa 3.600 Basenpaaren. Als er die gesamte Sequenz durchhatte, scrollten sie zu dem markierten Bereich zurück.
„Hier, diese Kombination ist außergewöhnlich, wenn du etwas suchst, solltest du hier anfangen“, sagte Tobias.
Ferguson nickte geistesabwesend, speicherte die Markierung und rief das Foto eines jungen Rugbyspielers mit
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