Hongkong 02 - Noble House Hongkong
sie und Bartlett in der Kühle der Nacht durch den schönen Park.
»Ich kenne selbst noch nicht alle Gründe«, antwortete der Engländer. Er war ein neununddreißigjähriger, blondhaariger Mann von hohem Wuchs mit aristokratischer Redeweise und einer seltsamen Intensität hinter seinen blaugrauen Augen.
»Wie es heißt, geht alles auf die Brocks zurück – angeblich standen die Familien Gornt und Brock in enger Beziehung zueinander. Vielleicht auch zum alten Tyler Brock. Von ihm haben Sie wohl schon gehört?«
»Ja sicher«, sagte Bartlett. »Wie hat die Fehde eigentlich begonnen?«
»Dirk Struan war Schiffsjunge auf einem von Tyler Brocks Handelskreuzern. Das Leben auf See war damals recht brutal, wie eigentlich überall … Jedenfalls peitschte Tyler Brock den jungen Struan wegen einer eingebildeten Mißachtung unbarmherzig aus und ließ ihn irgendwo an der chinesischen Küste liegen, da er ihn für tot hielt. Dirk Struan war damals vierzehn, und er schwor bei Gott und Teufel, daß er, sobald er erwachsen wäre, das Haus Brock und Söhne zerschmettern und Tyler mit einer neunschwänzigen Katze züchtigen würde. Soviel ich weiß, hat er diese Drohung zwar nie wahrgemacht, aber es gibt ein Gerücht, wonach er Tylers ältesten Sohn mit einem chinesischen Kampfeisen erschlug.«
»Was ist das?« wollte Casey wissen.
»Eine Art Morgenstern; eine aus drei oder vier kurzen Eisengliedern bestehende Kette mit einer Stachelkugel am Ende.«
»Er hat ihn getötet, um sich an dem Vater zu rächen?« fragte Casey geschockt.
»Da bin ich auch noch nicht sicher, aber ich wette, er hatte gute Gründe.« Peter Marlowe lächelte hintergründig. »Dirk Struan, der alte Tyler und all die anderen, die das britische Empire aufgebaut, Indien erobert und China erschlossen haben – mein Gott, das waren Giganten! Habe ich erwähnt, daß Tyler nur ein Auge hatte? Als er einmal während eines Sturmes – das war in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts – mit seinem Dreimaster White Witch hinter Struan herjagte, der mit einer vollen Ladung Opium unterwegs war, riß ihm ein zurückschnellendes Fall ein Auge aus. Angeblich goß sich Tyler Brandy in die Augenhöhle und forderte seine Matrosen unter Flüchen auf, mehr Segel aufzuziehen.« Peter Marlowe unterbrach sich und fuhr fort. »Dirk Struan kam 1841 bei einem Taifun in Happy Valley um, und 1863 starb Tyler Brock mittellos und bankrott.«
»Wieso mittellos?« erkundigte sich Casey.
»Nach der Legende hatte seine älteste Tochter Tess, die spätere ›Hexe‹ Struan – Sie wissen ja, daß sie Culum, Dirks einzigen Sohn, heiratete? – seit Jahren auf den Untergang ihres Vaters hingearbeitet. Sie verbündete sich insgeheim mit der Victoria Bank und mit Cooper-Tillman, Brocks Partner in den Vereinigten Staaten. Sie überlisteten ihn und führten den Zusammenbruch des Hauses Brock und Söhne herbei.
Er verlor alles – seine Schiffahrtslinien, sein Opium, seine Lagerhäuser, sein privates Eigentum. Er war ruiniert.«
»Was wurde aus ihm?«
»Ich weiß es nicht, mit Sicherheit weiß es niemand, aber man erzählt sich, daß der alte Tyler Brock, zusammen mit seinem Enkel Tom, der damals fünfundzwanzig war, und sechs Matrosen nach Aberdeen fuhr – das ist ein Hafen auf der anderen Seite von Hongkong. Dort bemächtigten sie sich einer ozeantüchtigen Lorcha – das ist ein Schiff mit einem europäischen Rumpf und chinesischer Takelung – und stachen in See. Er schäumte vor Wut. In seinem Gürtel hatte er Pistolen stecken, und in seiner Hand hielt er ein blutiges Entermesser – sie hatten vier Menschen getötet, als sie die Besatzung überwältigten. Noch im Hafen verfolgte ihn ein Kutter, und Brock schoß ihn zusammen. Wegen der Piraten waren damals fast alle Schiffe mit Kanonen bestückt. Vor der Ausfahrt aus dem Hafen von Aberdeen – ein starker Sturm kam auf – fing er an, Verwünschungen auszustoßen. Er verfluchte die ›Hexe‹ und er verfluchte die Insel. Er verfluchte die Victoria Bank, die ihn hereingelegt hatte, und er verfluchte die Coopers von Cooper-Tillman, aber mehr als alle anderen verfluchte er den Tai-Pan, der seit zwanzig Jahren tot war. Und er schwor blutige Rache. Er steuere nach Norden, um zu plündern, brüllte er, und er werde neu beginnen. Er werde sein Haus wieder aufbauen, und dann … ›und dann komme ich zurück, bei Gott, ich komme zurück und werde mich rächen, bei Gott …‹«
Bei diesen Worten lief es Casey und
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