Hongkong 02 - Noble House Hongkong
Bartlett kalt über den Rücken. »Tyler Brock steuerte nach Norden«, fuhr Marlowe fort, »aber man hörte nie wieder etwas von ihm, von seiner Mannschaft oder seiner Lorcha. Dennoch scheint er immer noch unter uns zu weilen – so wie Dirk Struan. Bei Ihren Verhandlungen mit dem Noble House sollten Sie immer bedenken, daß Sie auch mit diesen beiden zu Rande kommen müssen – oder mit ihren Geistern.«
Casey fröstelte unwillkürlich.
»Marlowe«, sagte Bartlett, »die Leute sprechen hier von Menschen, die seit hundert Jahren tot sind, als ob sie im Nebenzimmer säßen.«
»Das ist eine alte chinesische Gewohnheit«, antwortete Marlowe. »Die Chinesen glauben, daß die Vergangenheit die Zukunft bestimmt und die Gegenwart erklärt.
Hongkong ist ja erst hundertzwanzig Jahre alt, und ein Achtzigjähriger könnte heute … Nehmen wir Philip Tschen, den jetzigen Comprador, als Beispiel. Er ist jetzt fünfundsechzig – sein Großvater war der berühmte Sir Gordon Tschen, Dirk Struans illegitimer Sohn, der 1907 im Alter von 86 Jahren starb. Philip Tschen war damals neun. Mit neun Jahren behält ein aufgeweckter Junge die Geschichten, die sein Großvater ihm über seinen Vater, den Tai-Pan, und May-may, seine berühmte Geliebte, erzählt. Der alte Sir Gordon soll ein toller Bursche gewesen sein, ein Ahne, wie er im Buch steht. Er hatte zwei offizielle Frauen und acht Konkubinen unterschiedlichen Alters und ließ die sich ausbreitende Sippe der Tschen reich und mächtig zurück. Bitten Sie Dunross, Ihnen seine Porträts zu zeigen; ich habe nur Kopien zu Gesicht bekommen, aber der Mann sah verdammt gut aus. Und es sind erst sechsundvierzig Jahre her, daß die ›Hexe‹ starb. Schauen Sie mal, da drüben …« Er deutete mit dem Kopf auf einen runzeligen kleinen Mann, hager wie ein Bambus und nicht weniger kräftig, der sich angeregt mit einer jungen Frau unterhielt. »Das ist Vincent McMore, Tai-Pan der fünftgrößten hang, International Asien Trading. Es heißt, er sei der Liebhaber der ›Hexe‹ gewesen, knapp nachdem er hier mit achtzehn Jahren von Bord eines Viehfrachters gegangen war.«
»Also ist das jetzt die Wahrheit?« fragte Casey.
»Wer weiß schon, was Wahrheit ist und was nicht, Miss Tcholok?« gab Marlowe zurück. »So hat man es mir erzählt.«
»Ich glaube es nicht«, erklärte Fleur. »Peter denkt sich solche Geschichten aus.«
»Wo haben Sie das alles erfahren, Marlowe?« erkundigte sich Bartlett.
»Einiges habe ich gelesen. In der Bibliothek des Gerichtshofes haben sie Zeitungsbände, die bis 1870 zurückreichen. Dann haben sie dort eine History of the Law Courts of Hongkong – ein ebenso inhaltsreiches wie unerfreuliches Buch. Mein Gott, was die Herren alles aufgeführt haben – sogenannte Richter, Kolonialsekretäre, Gouverneure und Polizeibeamte und die Tai-Pane, die hochgeborenen Herrschaften und die Leute aus niedrigem Stand. Gaunereien, Mord, Korruption, Ehebruch, Seeräuberei, Bestechung, es ist alles da!
Und ich habe den Leuten Fragen gestellt. Es gibt Dutzende von alten Herren, die nur zu gern in Erinnerungen schwelgen und eine Menge über Asien und Schanghai wissen. Und es gibt haufenweise Leute, die, von Neid oder Haß erfüllt, es gar nicht erwarten können, ein wenig Gift auf einen schlechten oder einen guten Ruf zu träufeln.«
Eine kleine Weile hing Casey ihren Gedanken nach. »Mr. Marlowe«, fragte sie dann, »wie war es wirklich in Changi?«
Sein Gesichtsausdruck blieb gleich, aber seine Augen veränderten sich. »Changi war eine Genesis, Ort eines neuen Beginns.« Der Ton seiner Stimme machte sie alle frösteln, und Casey sah, wie Fleur ihre Hand in die seine schob. »Alles in Ordnung, Liebes«, sagte er, und schweigend, ein wenig verlegen, schlenderten sie zur unteren Terrasse zurück. Casey spürte, daß sie die Frage nicht hätte stellen dürfen. »Wie wäre es mit einem Drink, Miss Tcholok?« sagte Peter Marlowe liebenswürdig, und alles war wieder gut.
»Gern. Gute Idee.«
»Wissen Sie, Bartlett«, sagte Marlowe, »es ist eine ganz wundersame Bereitschaft zur Gewalt, die sich bei diesen Bukanieren von Generation zu Generation vererbt – und sie sind Seeräuber. Dies ist ein ganz besonderer Ort, er bringt ganz besondere Menschen hervor.« Und nach einer kleinen Pause fügte er nachdenklich hinzu: »Wie ich höre, wollen Sie hier Geschäftsverbindungen anknüpfen. An Ihrer Stelle wäre ich da sehr, sehr vorsichtig.«
13
23.05 Uhr:
Mit Brian Kwok im
Weitere Kostenlose Bücher