Hongkong 02 - Noble House Hongkong
Pulver? Was ist der Unterschied im Handel zwischen dem weißen Pulver und Salz? Es besteht kein Unterschied. Nur dieses dumme Gesetz der fremden Teufel bestimmt jetzt, daß das eine verboten ist und das andere nicht. Ayeeyah, war Opium nicht die Grundlage des Handels zwischen Hongkong und China gewesen? Aber jetzt, da sie ihre eigenen Pflanzen zerstört haben, tun die Barbaren, als ob es diesen Handel nie gegeben hätte! Es ist unmoralisch, sagen sie, ein schreckliches Verbrechen, das mit zwanzig Jahren Gefängnis gesühnt werden muß! Ayeeyah, wie kann ein kultivierter Mensch einen Barbaren verstehen? Das war ein schwerer Tag, dachte er. Zuerst verschwindet John Tschen. Dann werden diese beiden kantonesischen Hurenböcke auf dem Flughafen erwischt, und die Scheißpolizei reißt sich meine Gewehre unter den Nagel. Und heute nachmittag diese handgeschriebene Botschaft des Tai-Pan: »Grüße, verehrter alter Freund. Nach einiger Überlegung schlage ich vor, du postierst Siebenten Sohn beim Feind – besser für ihn, besser für uns. Fordere Schwarzbart auf, er möge dich heute abend besuchen! Ruf mich nachher an!« Unterzeichnet war der Brief mit dem Siegel des Tai-Pan und »Alter Freund«.
Für einen Chinesen war »Alter Freund« eine Person oder eine Gesellschaft, die ihm in der Vergangenheit besonders gefällig gewesen war, oder auch eine geschäftliche Verbindung, die sich als vertrauenswürdig und gewinnbringend erwiesen hatte – eine Verbindung, die unter Umständen seit Generationen bestand.
Ja, dachte Wu, dieser Tai-Pan ist ein alter Freund. Er war es, der ihm zu dem Geburtszeugnis und dem neuen Namen für den Siebenten Sohn geraten und der ihm empfohlen hatte, den Knaben ins Goldene Land zu schicken, und mehr noch: Er hatte dem Jungen den Weg an die große Universität geebnet und ohne sein Wissen ein Auge auf ihn gehabt. Auf diese Weise hatte Wu das Problem gelöst, einen seiner Söhne in Amerika ausbilden zu lassen, ohne daß der Ruch einer Verbindung mit dem Opiumgeschäft an ihm haften blieb.
Wie dumm diese Barbaren doch sind! Allerdings: dieser Tai-Pan ist es nicht. Er ist wahrhaftig ein alter Freund – er und Noble House.
Wu erinnerte sich all der hohen Gewinne, die er und seine Familie in Krieg und Frieden mit oder ohne Hilfe von Noble House gemacht hatten, indem sie Handel trieben, wo Handel zu treiben den Schiffen der Barbaren verwehrt war. Sie handelten sogar mit Menschen, denen sie halfen, vom Festland weg oder aufs Festland zu flüchten, und ließen sich gut dafür bezahlen. Mit und ohne, aber zumeist mit der Unterstützung von Noble House, hatte der Clan floriert: mit diesem Tai-Pan und vor ihm der Alten Hakennase, seinem alten Vetter, und vor ihm dem Tollen Hund, seinem Vater, und vor ihm des Vetters Vater.
Jetzt besaß Wu sechs Prozent von Noble House, die er in all den Jahren erworben und mit ihrer Hilfe hinter einer Hecke von Strohmännern verborgen hatte, den größten Anteil ihres Goldversandgeschäftes, und dazu beträchtliche Investitionen in Macao, Singapur und Indonesien.
Er war jetzt unter Deck und ging in die ungeordnete, mit Stroh bedeckte Hauptkabine, wo er und seine Frau schliefen. Sie lag in der großen Koje und drehte sich verschlafen nach ihm um. »Bist du fertig? Kommst du zu Bett?«
»Nein, schlaf weiter«, antwortete er freundlich. »Ich habe noch zu tun.«
Gehorsam tat sie, wie ihr geheißen. Sie war seine taitai, seine Hauptfrau, die er vor siebenundvierzig Jahren geheiratet hatte.
Er kleidete sich um. Er zog ein sauberes weißes Hemd an, saubere Socken und Schuhe und eine graue Hose mit scharfen Bügelfalten. Lautlos schloß er die Kabinentür hinter sich und eilte gelenkig auf das Deck hinauf. Er fühlte sich sehr unbequem in seinen Kleidern. »Ich bin noch vor morgen früh wieder zurück, Vierter Enkel«, sagte er. »Daß du mir nicht einschläfst!«
»Nein, Großvater.«
Er gab dem Jungen einen freundschaftlichen Knuff, spazierte über die Laufplanke und blieb auf der dritten Dschunke stehen.
»Gutwetter Poon!« rief er.
»Ja … ja?« antwortete die verschlafene Stimme. Der alte Mann lag eingerollt auf einer verschlissenen Sackleinwand und döste vor sich hin.
»Ruf alle Kapitäne zusammen! In zwei Stunden bin ich zurück.«
Poon war sofort hellwach. »Fahren wir aus?« fragte er.
»Nein. In zwei Stunden bin ich wieder da. Ruf die Kapitäne zusammen!«
Wu setzte seinen Weg fort und bestieg schließlich seinen privaten Sampan. Er blickte zum Ufer
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