Hongkong 02 - Noble House Hongkong
Möglichkeit, daß er doch noch am Leben sein könnte?«
»Nein.«
Ein Polizist kam eilig auf Crosse zu. »Das ist die letzte Liste der Toten und Verwundeten, Sir.« Der junge Mann reichte ihm das Blatt. »Venus Poon wird jetzt über Radio Hongkong sprechen, Sir. Sie ist oben auf der Kotewall Road.«
»Gut, danke.« Crosse überflog die Liste. »Na so was!«
»Hat man Suslew gefunden?«
»Nein. Nur ein paar alte Bekannte – tot.« Er gab ihm das Papier. »Ich kümmere mich jetzt um Boradinow. Ich bin gleich wieder da.«
Sinders nickte und warf einen Blick auf die Liste. Achtundzwanzig lebend geborgen, siebzehn tot. Die Namen bedeuteten ihm nichts. Doch unter den Toten war auch Jason Plumm.
Mit in letzter Minute übernommenen Frachtstücken und Ausrüstungsgegenständen beladen, schleppten sich Kulis die Fallreeps der Iwanow hinauf. Auf Grund der Notsituation war die Polizeikontrolle auf ein Minimum reduziert. Unter einem großen Kulihut versteckt, in Kulijacke und -hose, barfuß wie die anderen, ging Suslew unbemerkt an Bord. Als Boradinow ihn erblickte, ging er rasch in Suslews Kabine voraus. » Kristos, Genosse Kapitän«, platzte er heraus, kaum daß sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich hatte Sie schon verloren gegeben. Wir sollen bald aus …«
»Seien Sie still und hören Sie mir zu«, fiel Suslew ihm ins Wort, setzte die Whiskyflasche an die Lippen und tat einen tiefen Schluck. »Ist unsere Funkausrüstung wieder in Betrieb?«
»Ja, bis auf den Verschlüßler.«
»Gut.« Mit schwankender Stimme erzählte er ihm, was geschehen war. »Ich weiß nicht mehr, wie ich rauskam, aber mit einemmal war ich unten auf der Straße. Ich nahm mir ein Taxi und kam her.« Er tat noch einen Schluck aus der Flasche, und der Alkohol half ihm, den das Wunder seiner Errettung vor dem Tod und vor Sinders noch gefangenhielt. »Und hören Sie: Für alle anderen bin ich im Rose Court geblieben – tot oder vermißt.« Schon nahm der Plan in seinem Kopf Gestalt an.
Boradinow starrte ihn an. »Aber Gen …«
»Fahren Sie ins Polizeipräsidium und erstatten Sie Vermißtenanzeige! Dann fragen Sie, ob Sie die Abfahrt verschieben können. Wenn die Burschen nein sagen, gut, dann fahren wir. Wenn wir bleiben dürfen, bleiben wir einen Tag, um das Gesicht zu wahren, und laufen aus – mit dem Ausdruck des Bedauerns, aber wir laufen aus. Kapiert?«
»Ja, Genosse Kapitän, aber warum?«
»Später. Jetzt vergewissern Sie sich erst einmal, daß mich die Mannschaft ausnahmslos für vermißt hält. Verstanden?«
»Ja.«
»Niemand hat diese Kajüte zu betreten, bevor wir nicht in internationalen Gewässern sind. Ist das Mädchen gekommen?«
»Ja, sie ist in der anderen Kabine, wie Sie befohlen haben.«
»Gut.« Suslew überlegte. Er konnte sie wieder an Land bringen lassen, denn schließlich war er »abgängig« und würde es noch bleiben. Oder an seinem Plan festhalten.
»Es bleibt alles, wie besprochen. Es ist sicherer. Sagen Sie ihr einfach, daß wir die Abfahrt verschoben haben und daß sie in der Kajüte bleiben soll, bis ich komme. Ab mit Ihnen!«
Erleichtert aufatmend schloß Suslew die Tür und drehte das Radio an. Jetzt konnte er verschwinden. Einen Toten konnte Sinders nicht hochgehen lassen. Jetzt würde es ihm ein leichtes sein, die Zentrale dazu zu bringen, ihm zu gestatten, seine Pflichten in Asien an einen anderen abzugeben und eine neue Aufgabe zu übernehmen.
Er konnte vorbringen, daß angesichts der zahllosen, in den AMG-Berichten dokumentierten ungelösten Sicherheitsprobleme in Europa ein anderer einen neuen Anfang mit Crosse und Plumm machen mußte – sofern einer von ihnen überhaupt noch am Leben ist, dachte er. Am besten wäre es, wenn sie beide tot sind. Nein, Roger nicht. Roger ist zu wertvoll.
Frohgestimmt und zuversichtlich wie schon lange nicht mehr ging er ins Badezimmer und rasierte sich. Vielleicht sollte ich um eine Versetzung nach Kanada nachsuchen. Ist Kanada nicht einer unserer lebenswichtigsten Posten – seiner Bedeutung nach Mexiko durchaus ebenbürtig?
Er lächelte sich im Spiegel an. Wo mein Leben noch vor wenigen Stunden einer Katastrophe zutrieb, dachte er, winken mir jetzt Beförderung und neue Aufgaben auf einem anderen Kontinent. Vielleicht nehme ich mir die Vertinskaja mit nach Ottawa.
Als Boradinow mit der polizeilichen Genehmigung zurückkehrte, die Abfahrt verschieben zu dürfen, erkannte er Gregor Suslew ohne Bart kaum wieder.
15
23.40 Uhr:
Bartlett
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