Honig
Was für eine Veränderung! Sie war also tatsächlich Schriftstellerin geworden, folglich war es kein Zufall, dass sie Tom im Pillars of Hercules getroffen hatte – er hatte mir erzählt, der Pub habe sich während der Vorbereitungen für die erste Nummer bereits zu einer Art Zweigstelle, Vorzimmer und Kantine der New Review entwickelt, wo die Autoren zu Dutzenden ein und aus gingen. Mit dem Fett war ihr offenbar auch der Anstand abhandengekommen. Sie hatte nicht überrascht gewirkt, mich hier zu sehen, also musste sie wissen, dass Tom und ich ein Paar waren. Später, wenn ich erst einmal richtig wütend wäre, würde ich ihr die Hölle heißmachen. Die konnte was erleben.
Aber vorerst empfand ich gar nichts. Der Pub machte zu, und wir folgten Hamilton durch den düsteren Nachmittag ins Muriel’s, eine winzige, finstere Kneipe, wo Männer eines gewissen Alters mit aufgedunsenen Gesichtern auf Barhockern am Tresen saßen und lautstark über Außenpolitik diskutierten.
Als wir hereinkamen, rief gerade einer: »China? Hör bloß auf. China!«
Wir zwängten uns auf drei Samtsessel in einer Ecke. Tom und Ian hatten jene Phase beim Trinken erreicht, in der das Gespräch sich in Endlosschlaufen um irgendeine Kleinigkeit dreht. Sie sprachen über Philip Larkin, über die letzten Zeilen von Pfingsthochzeiten, einem der Gedichte, die Tom [375] mir zu lesen gegeben hatte. Sie stritten, wenn auch nicht sehr leidenschaftlich, über die Bedeutung von »ein Bündel Pfeile, / das weit entfernt als Regen fällt«. Hamilton fand, das sei doch vollkommen klar. Der Zug war am Ziel, die frisch verheirateten Paare konnten ihrer Wege gehen, hinein nach London, hinein in ihr Schicksal. Tom meinte weniger lakonisch, die Verse seien dunkel, voller Vorahnungen und negativer Bilder – das Gefühl des Fallens, Regen, Verlorenheit, Ferne. Er benutzte das Wort »Verflüssigung«, worauf Hamilton trocken erwiderte: »Verflüssigung ist gut.«
Dann fingen sie wieder von vorne an, ließen sich geistreiche Variationen derselben Argumente einfallen, wobei ich den Eindruck hatte, dass Hamilton als der Ältere Tom vielleicht nur ein wenig auf den Zahn fühlen, sein Urteil und seine Schlagfertigkeit testen wollte. Ich glaube nicht, dass Hamilton wirklich interessierte, wer nun recht hatte.
Ich hörte nicht die ganze Zeit zu. Die Männer beachteten mich nicht, und langsam kam ich mir vor wie ein Schriftsteller-Groupie oder vielmehr wie ein Trottel. Ich ging in Gedanken meine Habseligkeiten in der Brightoner Wohnung durch – womöglich würde ich nie mehr dorthin zurückkehren. Ein Föhn, Unterwäsche, ein paar Sommerkleider und ein Badeanzug, nichts, was ich ernstlich vermissen würde. Ich redete mir ein, ohne Tom wäre ich die Last los, ihm reinen Wein einschenken zu müssen. Ich könnte mein Geheimnis für mich behalten. Wir tranken jetzt Kognak mit Kaffee. Na und – dann trennte ich mich eben von Tom. Ich würde ihn schnell vergessen und einen Anderen finden, einen Besseren. Alles in bester Ordnung, ich konnte gut alleine für mich sorgen, ich würde meine [376] Zeit gut nutzen, mich der Arbeit widmen, Olivia Mannings Balkan-Trilogie lesen, die neben meinem Bett bereitlag, und im Frühling würde ich mit den zwanzig Pfund des Bischofs in Urlaub fahren und in einem kleinen Hotel irgendwo am Mittelmeer eine interessante, alleinstehende Frau sein.
Um sechs endete das Gelage, wir gingen im eisigen Regen Richtung Soho Square. Hamilton hatte an diesem Abend eine Lesung in der Poetry Society in Earls Court. Er schüttelte Tom die Hand, umarmte mich, und als er davoneilte, war seinem Gang nicht anzumerken, wie er den Nachmittag verbracht hatte. Dann waren Tom und ich allein und wussten nicht recht, wohin wir als Nächstes sollten. Jetzt geht es los, dachte ich, und in diesem Augenblick – ernüchtert vom kalten Regen, der mir ins Gesicht fiel, durchzuckt von der Erkenntnis, wie viel ich verloren und wie sehr mich Tom verraten hatte – fühlte ich mich plötzlich so verzweifelt, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte. Ein ungeheures schwarzes Gewicht drückte mich nieder, meine Füße waren schwer und wie taub. Ich blickte quer über den Platz in Richtung Oxford Street. Ein paar Hare-Krishna-Jünger, leichtgläubige Deppen mit kahlrasierten Köpfen und Tamburinen, zogen sich singend und im Gänsemarsch in ihr Hauptquartier zurück. Flohen vor dem Regen ihres Gottes. Ich hasste sie, jeden Einzelnen von ihnen.
»Serena, Liebes, was hast
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