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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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du?«
    Schwankend stand er vor mir, sturzbetrunken, aber noch immer ein guter Schauspieler, sein Gesicht in theatralische Falten gelegt.
    Als stünde ich irgendwo im zweiten Stock hinter einer Fensterscheibe, konnte ich uns beide von oben sehen, das [377] Bild von Regentropfen mit schwarzem Rand verzerrt: ich sah zwei Betrunkene in Soho, die sich auf dem dreckigen, nassen Bürgersteig gleich in die Haare kriegen würden. Ich wäre am liebsten gegangen, denn was für eine Szene nun kam, war klar. Aber ich konnte mich noch immer nicht bewegen.
    Stattdessen gab ich den Startschuss, indem ich mit einem matten Seufzen sagte: »Du hast eine Affäre mit meiner Freundin.«
    Das klang wehleidig und kindisch, und auch dumm, als ob es in Ordnung gewesen wäre, wenn er eine Affäre mit einer Wildfremden gehabt hätte. Er starrte mich an und brachte sogar einen verblüfften Ausdruck zustande. Ich hätte ihn ohrfeigen können.
    »Was…?« Dann die plumpe Imitation eines Mannes, der plötzlich eine Erleuchtung hat.
    »Shirley Shilling! O Gott, Serena. Glaubst du das wirklich? Hätte ich bloß etwas gesagt. Die habe ich bei der Lesung in Cambridge kennengelernt. Sie war mit Martin Amis da. Ich hab erst heute erfahren, dass ihr mal im selben Büro gearbeitet habt. Und als wir uns dann mit Ian unterhalten haben, hab ich nicht mehr dran gedacht. Ihr Vater ist vor kurzem gestorben, und sie ist völlig am Boden. Sie wäre mit zu euch rübergekommen, aber sie war zu durcheinander…«
    Er legte mir eine Hand auf die Schulter, aber ich schüttelte sie ab. Ich wollte kein Mitleid. Und mir schien, als zuckten seine Mundwinkel belustigt.
    Ich sagte: »Die Sache war eindeutig, Tom. Wie konntest du nur!«
    [378] »Sie hat einen schmalzigen Liebesroman geschrieben. Aber ich mag sie. Das ist alles. Ihr Dad hatte ein Möbelgeschäft, sie stand ihm sehr nahe, hat bei ihm gearbeitet. Sie hat mir aufrichtig leidgetan. Ehrlich, Liebling.«
    Erst war ich nur verwirrt, hin und her gerissen, ob ich ihm glauben oder ihn hassen sollte. Aber als ich schon an mir zu zweifeln anfing, wallte ein köstlicher, masochistischer Trotz in mir auf, der sich partout nicht von der Horrorvorstellung abbringen lassen wollte, dass Tom mit Shirley geschlafen hatte.
    »Das ist ja furchtbar, mein armer Liebling, du hast den ganzen Nachmittag gelitten. Deshalb also warst du so still. Aber natürlich! Bestimmt hast du gesehen, wie ich ihre Hand gehalten habe. Ach, mein Schatz, das tut mir ja so leid. Ich liebe dich, nur dich, es tut mir so leid…«
    Ich verzog keine Miene, während er mich mit immer neuen Beteuerungen zu beschwichtigen versuchte. Dass ich ihm glaubte, machte mich nicht weniger wütend. Ich war wütend auf ihn, weil ich mir dumm vorkam, weil ich Angst hatte, dass er mich insgeheim auslachte, dass er das Ganze am Ende noch zu einer komischen Geschichte verarbeiten würde. Ich war entschlossen, ihn zappeln zu lassen, er sollte sich mächtig ins Zeug legen, um mich zurückzugewinnen. Nach einer Weile allerdings war mir klar, dass ich nur noch so tat, als glaubte ich ihm nicht. Doch ich wollte nicht als Trottel dastehen, und außerdem wusste ich nicht, wie ich da rauskommen sollte, wie die Position, hinter der ich mich verschanzt hatte, aufgeben, ohne das Gesicht zu verlieren. Also blieb ich stumm, aber als er meine Hand nahm, entriss ich sie ihm nicht, und als er mich zu sich her [379] anzog, gab ich widerstrebend nach und ließ zu, dass er mich auf die Stirn küsste.
    »Du bist völlig durchnässt, du zitterst ja«, flüsterte er mir ins Ohr. »Du musst ins Warme.«
    Ich nickte zum Zeichen, dass mein Widerstand gebrochen war, dass mein Misstrauen bröckelte. Wir befanden uns am Anfang der Greek Street, das Pillars of Hercules war nur wenige hundert Meter entfernt, aber ich wusste, »ins Warme« bedeutete mein Zimmer.
    Er zog mich an sich. »Denk daran«, flüsterte er, »was wir am Strand gesagt haben. Wir lieben uns. So einfach ist das.«
    Wieder nickte ich. Ich konnte nur noch daran denken, wie kalt mir war, wie betrunken ich war. Ich hörte Motorengeräusche hinter uns und spürte, wie er sich umdrehte, um ein Taxi heranzuwinken. Wir stiegen ein, fuhren in nördliche Richtung los, und Tom drehte die Heizung auf, die brummend ein wenig kühle Luft verströmte. An der Trennscheibe zwischen uns und dem Fahrer hing eine Werbung für ein Taxi genau wie unseres, und die Buchstaben schwankten dermaßen auf und ab, dass ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. In

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