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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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verletzlich. Auch seine Förderung durch die Stiftung wurde in ein paar Artikeln erwähnt. Man erinnerte an die Eile, mit der Toms Buch gerade noch rechtzeitig für den Austen-Stichtag fertiggestellt worden war. Noch hatte kein Journalist den Roman gelesen, weil Tom Maschler aus taktischen Gründen keine Rezensionsexemplare verschickte. In einem ungewöhnlich wohlwollenden Artikel in der Klatschspalte des Daily Telegraph hieß es, alle seien sich einig, dass Tom Haley ein gutaussehender Mann sei, Frauen bekämen »weiche Knie«, wenn er lächle. Für einen Augenblick wurde mir ganz flau vor Eifersucht und Besitzerstolz. Was für Frauen? Tom hatte jetzt einen eigenen Telefonanschluss in seiner Wohnung, so dass ich ihn von einer übelriechenden Telefonzelle in der Camden Road aus anrufen konnte.
    »Es gibt keine Frauen«, sagte er fröhlich. »Wahrscheinlich sind sie alle in der Zeitungsredaktion und kriegen weiche Knie beim Anblick meines Fotos.«
    Er wundere sich immer noch, dass er auf die Liste gekommen sei, aber Maschler habe ihm am Telefon erklärt, dass er sonst an die Decke gegangen wäre. »An dem Buch kommt niemand vorbei«, habe Maschler gesagt. »Sie sind [384] ein Genie, und es ist ein Meisterwerk. Die konnten es schlicht nicht ignorieren.«
    Aber die literarische Neuentdeckung ließ sich von dem Austen-Trubel nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn die Presseberichte ihn ein wenig irritierten. Aus dem Tiefland lag bereits hinter ihm, eine »Fingerübung«. Ich ermahnte ihn, das ja nicht Journalisten gegenüber zu sagen, solange die Juroren noch nicht entschieden hatten. Er erwiderte, ihm sei das alles egal, er habe einen Roman zu schreiben – und dabei legte er ein Tempo vor, bei dem nur Besessenheit und eine neue elektrische Schreibmaschine mithalten konnten. Das Einzige, was ich von dem Buch wusste, war, wie viele Wörter Tom täglich schrieb: in der Regel drei- bis viertausend Wörter, manchmal sechstausend, und einmal, im Rausch eines Nachmittags und einer durchgeschriebenen Nacht, zehntausend. Die Zahlen sagten mir nicht viel, umso mehr aber die heisere Erregung, die mir aus dem Telefonhörer entgegenschlug.
    »Zehntausend Wörter, Serena. Wenn ich das einen Monat lang durchhalten könnte, hätte ich eine Anna Karenina !«
    Sogar mir war klar, dass er das nicht schaffen würde. Ich wollte ihn beschützen, ich machte mir Sorgen, dass die Rezensionen, wenn sie dann kämen, negativ ausfallen würden und seine Enttäuschung größer wäre, als er sich jetzt vorstellen konnte. Unterdessen war seine einzige Sorge, dass die Schottlandreise, die er kürzlich zu Recherchezwecken unternommen hatte, ihn aus dem Tritt gebracht haben könnte. »Du brauchst eine Pause«, sagte ich auf der Camden Road ins Telefon. »Lass mich am Wochenende vorbeikommen.«
    [385] »Okay. Aber ich muss trotzdem weiterschreiben.«
    »Tom, bitte, erzähl mir doch wenigstens ein bisschen was davon.«
    »Ich verspreche dir, du kriegst es als Erste zu sehen.«
    Am Tag nach der Bekanntgabe der Shortlist bestellte Max mich nicht wie üblich zu sich, sondern kam höchstpersönlich bei mir vorbei. Zuvor blieb er noch auf einen Schwatz vor Chas Mounts Schreibtisch stehen. An diesem Vormittag ging es gerade ziemlich hektisch zu. Mount hatte einen Entwurf für einen internen Bericht geschrieben, eine Art Rückschau, an der auch die Royal Ulster Constabulary und die Armee mitgewirkt hatten. Das Thema war, was Mount bitter »die offene Wunde« nannte: die Internierungen ohne Gerichtsverfahren. 1971 hatte man scharenweise die Falschen eingesperrt, weil die Verdächtigenlisten der Special Branch der Royal Ulster Constabulary veraltet und unbrauchbar gewesen waren. Mörder aus dem loyalistischen Lager dagegen, die ganzen Ulster-Volunteer-Force-Leute, waren auf freiem Fuß geblieben. Die Haftbedingungen waren unhaltbar, und die Häftlinge wurden nicht gehörig voneinander getrennt. All das ohne rechtsstaatliche Verfahren – ein Propagandageschenk an unsere Feinde. Chas Mount hatte in Aden gedient, die Verhörmethoden, die Armee und Royal Ulster Constabulary bei den Internierten anwandten – schwarze Kapuzen, Isolation, Nahrungsentzug, weißes Rauschen, stundenlanges Stehen –, hatte er stets mit Skepsis betrachtet. Ihm lag daran zu beweisen, dass der MI 5 sich die Hände vergleichsweise wenig schmutzig gemacht hatte. Wir Mädchen im Büro nahmen das für bare Münze. Die ganze leidige Angelegenheit würde [386] irgendwann vor dem Europäischen

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