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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Minuten später ließ er meine Hand los.
    Wir setzten uns ins Gras, weit weg von den anderen Leuten, und sprachen wieder über die IRA . Im Monat zuvor waren in Whitehall und bei Scotland Yard Bomben hochgegangen. Der Geheimdienst organisierte sich fortlaufend neu. Einige von uns, die vielversprechenderen Neuzugänge, inklusive Shirley, waren von der Kindergartenarbeit in der Registratur abgezogen und wahrscheinlich auf dieses neue Problem angesetzt worden. Man hatte Räumlichkeiten in Beschlag genommen, es gab Sitzungen hinter verschlossenen Türen bis spät in die Nacht. Mich hatte man zurückgelassen. Ich verdrängte meine Enttäuschung mit der Klage – sie war nicht neu –, dass ich immer noch die alten Schlachten schlagen müsse. Die Nachmittagsvorträge seien zwar faszinierend, doch wie Vorträge über eine tote Sprache. Die Welt habe es sich in ihren beiden Lagern bequem gemacht, behauptete ich. Der Sowjetkommunismus habe so viel missionarischen Eifer wie die anglikanische Kirche. Das russische Imperium, so repressiv und korrupt es auch sei, liege im Koma. Die neue Bedrohung sei der Terrorismus. Ich hatte einen Artikel im Time Magazine gelesen und hielt mich für gut informiert. Es gehe nicht nur um die Provisorische IRA oder die verschiedenen Palästinensergruppen. Überall auf dem europäischen Festland zündeten Anarchisten und Linksextremisten Bomben und entführten Politiker und Unternehmer. Die Roten Brigaden, die Baader-Meinhof-Gruppe, in Südamerika die Tupamaros und Dutzende ähnlicher Banden, in den Vereinigten Staaten die [91] Symbionese Liberation Army – all diese blutrünstigen Nihilisten und Narzissten seien international bestens miteinander vernetzt und würden bald auch hierzulande eine Sicherheitsbedrohung darstellen. Wir hatten die Angry Brigade gehabt, andere und viel Schlimmere würden folgen. Was für ein Irrsinn, dass wir immer noch den Großteil unserer Ressourcen in ein Katz-und-Maus-Spiel mit unbedeutenden Mitläufern in sowjetischen Handelsdelegationen investierten!
    Den Großteil unserer Ressourcen? Was wusste eine blutige Anfängerin schon über den Etat des Geheimdienstes? Aber ich versuchte, selbstbewusst aufzutreten. Der Kuss hatte mich angestachelt, ich wollte Max beeindrucken. Er beobachtete mich genau, nachsichtig und amüsiert.
    »Schön, dass du dich mit all diesen finsteren Splittergruppen so gut auskennst. Aber, Serena, vorletztes Jahr haben wir hundertfünf sowjetische Agenten rausgeschmissen. Die hatten sich überall eingeschlichen. Wir mussten die Regierung so weit erziehen, dass sie handelt, das war ein kritischer Moment für den Geheimdienst. Angeblich war es nicht einfach, den Innenminister ins Boot zu holen.«
    »Er und Tony waren Freunde, bis sie…«
    »Das kommt alles daher, dass Oleg Lyalin zu uns übergelaufen ist. Er sollte im Krisenfall Sabotageaktionen in Großbritannien organisieren. Das Unterhaus hat dazu Stellung genommen. Das hast du damals bestimmt in der Zeitung gelesen.«
    »Ja, ich erinnere mich.«
    Das war natürlich gelogen. Die Ausweisungen hatten es nicht bis in meine ?Quis? -Kolumne geschafft. Ich hatte [92] noch keinen Tony gehabt, der mich zum Zeitunglesen animierte.
    »Worauf ich hinauswill«, sagte Max, »ist, dass ›im Koma‹ nicht ganz der richtige Ausdruck ist.«
    Er sah mich immer noch so eigenartig an, erwartungsvoll, als steuere das Gespräch gleich auf etwas Bedeutungsvolles zu.
    Ich sagte: »Wahrscheinlich hast du recht.« Ich war nervös, umso mehr, als ich spürte, dass er genau das beabsichtigte. Unsere Freundschaft war noch so jung. Ich wusste nichts über ihn, und jetzt kam er mir wie ein Fremder vor mit seinen übergroßen Ohren, die er wie Radarschüsseln auf mich richtete, um auch mein leisestes, unaufrichtigstes Flüstern aufzufangen, mit seinem schmalen, unverwandt aufmerksamen Gesicht. Mich quälte der Gedanke, dass er etwas von mir wollte, und dass ich, selbst wenn er es bekäme, immer noch nicht wüsste, was es war.
    »Möchtest du, dass ich dich noch einmal küsse?«
    Er war so lang wie der erste, dieser Kuss eines Fremden, und, da er eine Spannung zwischen uns löste, sogar noch angenehmer. Ich wurde ruhiger, fühlte mich dahinschmelzen wie eine Figur in einem Liebesroman. Die Vorstellung, dass Max mir etwas vorspielte, wäre mir jetzt unerträglich gewesen.
    Er lehnte sich zurück und fragte ruhig: »Hat Canning dir gegenüber mal Lyalin erwähnt?« Bevor ich antworten konnte, küsste er mich wieder, eine

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