Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Nun, da ich wirklich Blödsinn zusammenphantasierte, fühlte ich mich geradezu erleichtert.
    Ich stand vom Bettrand auf. Ich war versucht, die [124] Matratze wieder umzudrehen und mir den Blutfleck ein zweites Mal anzuschauen. Er war genau unter der Stelle, auf der ich eben gesessen hatte. War er so alt wie dieser Zettel? Ich wusste nicht, wie Blut alterte. Aber das brachte es auf den Punkt, das war die schlichteste Formulierung des Rätsels, der Kern meines Unbehagens: Hatten der Name der Insel und Tonys Initialen etwas mit dem Blut zu tun?
    Ich schob das Papier in meine Schürzentasche, ging durch den Flur zur Toilette und hoffte, dass Shirley mir nicht über den Weg laufen würde. Ich schloss ab, kniete mich neben den Zeitungsstapel und begann ihn durchzublättern. Nicht jeder Tag war vorhanden – das sichere Haus musste zwischendurch immer wieder länger leer gestanden haben. Die Ausgaben reichten weit zurück. Die Olympischen Spiele in München waren im vergangenen Sommer gewesen, zehn Monate zuvor. Wer hätte das vergessen können, elf israelische Sportler, massakriert von palästinensischen Guerilla-Kämpfern? Ich fand die Ausgabe mit der fehlenden Ecke unten im Stapel, fast am Boden, und zog sie heraus. Da stand die erste Hälfte des Worts »Programm«. 25. August 1972. »Arbeitslosigkeit im August auf höchstem Stand seit 1939.« Ich erinnerte mich vage an den Artikel, nicht wegen der Schlagzeile, sondern wegen des Textes über meinen alten Helden Solschenizyn oben auf der Seite. Seine Nobelpreisrede von 1970 war eben erst veröffentlicht worden. Darin kritisierte er die Vereinten Nationen, weil sie die Anerkennung der Erklärung der Menschenrechte nicht zur Bedingung für die Mitgliedschaft gemacht hatten. Ich fand, er hatte recht, Tony fand es naiv. Mich bewegten die Passagen über die »Schatten der Gefallenen« und »die [125] Vision von Kunst, die aus dem Leid und der Einsamkeit der sibirischen Einöde entspringt«. Und besonders gefiel mir der Satz: »Wehe der Nation, deren Literatur durch den Eingriff der Macht unterbrochen wird.«
    Ja, wir hatten tatsächlich lange über diese Rede diskutiert, einen kleinen Disput darüber gehabt. Wenig später folgte unsere Abschiedsszene auf dem Rastplatz. Ob Tony danach, als seine Rückzugspläne bereits Gestalt angenommen hatten, hierhergekommen war? Aber warum? Und wessen Blut war das? Ich hatte das Rätsel nicht gelöst, glaubte aber, Fortschritte zu machen, und fühlte mich clever. Und sich clever zu fühlen, fand ich immer, ist schon fast dasselbe wie Fröhlichsein. Da hörte ich Shirley kommen, rückte den Stapel rasch zurecht, spülte die Toilette, wusch mir die Hände und öffnete die Tür.
    Ich sagte: »Toilettenpapier sollte auch noch auf die Einkaufsliste.«
    Shirley stand weiter hinten im Flur und hatte mich vermutlich nicht gehört. Sie machte ein zerknirschtes Gesicht, und plötzlich wurde mir wieder warm ums Herz.
    »Tut mir leid, das eben, Serena. Weiß auch nicht, warum ich das mache. Völlig bescheuert. Wenn ich recht behalten will, übertreibe ich immer maßlos.« Und als scherzhafte Abmilderung fügte sie hinzu: »Das mach ich doch nur, weil ich dich mag!«
    Mir fiel auf, dass ihr Cockney-Akzent verflogen war, an sich schon eine leise Bitte um Entschuldigung.
    Ich sagte: »Ist doch nichts passiert«, und meinte es auch so. Was da zwischen uns passiert war, war nichts im Vergleich zu dem, was ich gerade entdeckt hatte. Ich hatte [126] schon beschlossen, kein Wort davon zu sagen. Ich hatte Shirley nie viel von Tony erzählt. Das hatte ich mir alles für Max aufgespart. Umgekehrt wäre vielleicht besser gewesen, aber mich ihr jetzt anzuvertrauen, hätte nichts gebracht. Der Zettel steckte tief unten in meiner Tasche. Wir plauderten zuerst noch eine Weile freundschaftlich miteinander und machten uns dann wieder an die Arbeit. Es war ein langer Tag, erst nach sechs waren wir mit Putzen und Einkaufen fertig. Die August-Ausgabe der Times steckte ich ein, vielleicht verriet sie mir doch noch mehr. Als wir den Lieferwagen abends in Mayfair abstellten und uns voneinander verabschiedeten, dachte ich, Shirley und ich seien wieder beste Freundinnen.

[127] 7
    Am nächsten Morgen wurde ich für elf in Harry Tapps Büro bestellt. Ich rechnete immer noch mit einem Verweis für Shirleys Entgleisung während des Vortrags. Um zehn vor elf ging ich auf die Damentoilette, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, und während ich mir die Haare kämmte, sah ich mich

Weitere Kostenlose Bücher