Honig
Meinungsverschiedenheit. Wenn sie so infantile oder verbohrte politische Ansichten hatte, was konnte sie mir dann für eine Freundin sein? Andererseits glaubte ich, es sei bloß eine Frage der Zeit, bis ihre Ansichten reiften, nur schon durch schlichte Ansteckung seitens der Kollegen. Manchmal löst man ein Problem am besten, indem man nichts sagt. Die Tendenz zur ständigen »Wahrhaftigkeit« und Konfrontation richtete meiner Meinung nach großen Schaden an und ließ viele Freundschaften und Ehen zugrunde gehen.
Nicht lange vor diesem Abend war Shirleys Platz im Büro fast einen ganzen Tag und einen Teil des nächsten leer geblieben. Krank war sie nicht. Jemand hatte gesehen, wie sie in den Aufzug stieg und welchen Knopf sie drückte. Man munkelte, sie sei in die fünfte Etage bestellt worden, in die umwölkten Höhen, wo unsere Herren und Gebieter ihren undurchschaubaren Geschäften nachgingen. Man munkelte auch, Shirley, die so viel aufgeweckter war als wir anderen, stehe eine außergewöhnliche Beförderung bevor. Im großen Lager der Novizinnen provozierte das liebenswürdige Sticheleien à la »Ach, käme ich doch auch aus der Arbeiterklasse«. Ich prüfte meine eigenen Gefühle. Wäre ich eifersüchtig, wenn meine beste Freundin mich überholen würde? Vermutlich ja.
Als sie wieder auftauchte, ignorierte sie alle Fragen und sagte gar nichts, sie log nicht einmal, was die meisten als Bestätigung dafür ansahen, dass sie außer der Reihe befördert worden war. Ich war mir nicht so sicher. Das Mienenspiel ihres rundlichen Gesichts war manchmal schwer zu [163] deuten, ihr subkutanes Fett war die Maske, hinter der sie lebte. Eigentlich ideal für dieses Metier, hätte man Frauen bloß andere Aufgaben gegeben, als Häuser zu putzen. Aber ich glaubte sie gut genug zu kennen. Da war kein Triumph. War ich ein kleines bisschen erleichtert? Vermutlich schon.
Es war unser erstes Treffen außerhalb der Arbeit seither. Ich war entschlossen, keine Fragen über die fünfte Etage zu stellen. Das wäre mir würdelos vorgekommen. Außerdem hatte ich ja nun auch meinen Spezialauftrag und meine Beförderung, selbst wenn sie von zwei Etagen tiefer stammten. Shirley stieg auf Gin und Orangensaft um, ein großes Glas, und ich bestellte das Gleiche. Die erste Viertelstunde tauschten wir im Flüsterton Bürotratsch aus. Jetzt, da wir nicht mehr zu den Neuen zählten, glaubten wir über manche Regeln hinwegsehen zu dürfen. Es gab eine echte Neuigkeit zu besprechen. Eine aus unserem Jahrgang, Lisa – Oxford High, St. Anne’s College, klug und charmant –, hatte soeben ihre Verlobung mit einem Ressortleiter namens Andrew verkündet – Eton, King’s College, jungenhaft und intellektuell. Die vierte derartige Verbindung binnen neun Monaten. Wäre Polen in die NATO eingetreten, es hätte kaum für mehr Aufregung sorgen können als diese bilateralen Allianzen. Wer würden wohl die Nächsten sein? »Wer wen?«, wie ein leninistischer Witzbold es ausdrückte. Max und ich waren schon ganz früh auf der Bank am Berkeley Square beobachtet worden, und ich erinnerte mich noch an das Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich zufällig mitbekam, wie unsere Namen irgendwo durchgehechelt wurden, aber in letzter Zeit hatte man uns zugunsten aussichtsreicherer Kandidaten fallen lassen. Jedenfalls plauderten [164] Shirley und ich über Lisa und den allgemeinen Konsens, dass zwischen Verlobung und Hochzeit zu viel Zeit liege, und kamen dann auf Wendys Eheaussichten – ihr Oliver war stellvertretender Sektionsleiter, das war womöglich ein paar Nummern zu groß für sie. Doch unser Gespräch kam mir etwas mechanisch und oberflächlich vor. Ich spürte, dass Shirley irgendwie um den heißen Brei herumredete. Sie hob zu häufig ihr Glas, als müsse sie sich Mut antrinken.
Und tatsächlich bestellte sie noch einen Gin Orange, nahm einen Schluck, zögerte kurz und sagte schließlich: »Ich muss dir was sagen. Aber vorher tu mir bitte einen Gefallen.«
»Gut.«
»Lächle, so wie eben.«
»Was?«
»Tu’s einfach. Wir werden beobachtet. Setz ein Lächeln auf. Wir plaudern fröhlich vor uns hin. Okay?«
Ich verzog die Lippen.
»Das geht noch besser. Nicht so steif.«
Ich gab mir Mühe, nickte, hob die Schultern, versuchte, einen munteren Eindruck zu machen.
Shirley sagte: »Man hat mich gefeuert.«
»Nein!«
»Fristlos.«
»Shirley!«
»Immer lächeln. Du darfst das keinem erzählen.«
»Okay, aber warum?«
»Ich kann dir nicht alles
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