Honigkäfer (Käfer-Reihe) (German Edition)
fast über ein gefährlich gezacktes Messer gestolpert, das einfach so auf dem Boden herumlag. Als sie den Blick schweifen ließ, musste sie sich eingestehen, dass dieser Raum hier eher einer Waffenkammer als einem Wohnraum glich. Überall lagen Messer herum und quer über dem kleinen Sekretär lag ein Bogen aus hellen Holz. Das Zimmer war, wie alle Räume im Haus, mit dunklen Möbeln bestückt und die zwei kleinen Couchen waren in einem blassen Olivgrün bezogen. Es hätte ganz gemütlich sein können, hätte Victors es nicht in ein chaotisches Ankleidezimmer und Waffenlager verwandelt. Jeanne spazierte auf den Schreibtisch zu, auf dem sich Bücher stapelten. Ein Buch war aufgeschlagen, doch es war in einer Sprache geschrieben, dessen fremdartig anmutenden Zeichen Jeanne nicht lesen konnte. Es schien sich um Anleitungen zu handeln, denn rechts sah sie eine unterteilte Liste und linke einen längeren Text. Sie nahm sich eine alt aussehende Schriftrolle und vorsichtig entrollte sie sie ein Stück. Wieder verstand sie die Sprache nicht, doch die Buchstaben erkannte sie. "A.....p....i....c....i....u....s", entzifferte sie mühsam. "Apicius", wiederholte sie und las dann mühsam weiter. "De....re.....", sie brach ab weil sie fürchtete vor dem nächsten Wort zu scheitern. "c..o..q..u..i..n..a..r..i..a".
De re coquinaria? Es musste der Titel sein, obwohl Jeanne keine Ahnung hatte, welche Sprache dies sein mochte. Die Texte, die dann auf dem fast brüchigen Papier folgten waren kurz und sie gab bald auf, sie verstehen zu wollen.
Jeanne griff nach einem weiteren Buch, dessen lederner Einband bereits verblichen und abgegriffen war. Neugierig blätterte sie durch ein paar Seiten und stellte fest, dass es sich um eine Art bebildertes Kräuter- und Gewürzlexikon handelte. Jeanne sah sich auch noch die restlichen Bücher an und kam zu dem Schluss, dass es sich hierbei um eine Art Kochbuchsammlung handeln musste. Um Victors Kochbuchsammlung, um genau zu sein. Jeanne drehte sich um, sah auf die vielen Waffen, dachte an Victors rohes, muskulöses Aussehen und tat sich schwer damit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass er abends in diesen Büchern las.
Ihr Blick fiel auf eine Verbindungstür, die ebenfalls offen stand. Neugierig kam sie näher und betrat ein Schlafzimmer, das ähnlich durch seine Unordnung verunstaltet war wie der Raum davor. Einzelne Stiefel lagen herum, der Kleiderschrank stand leicht schief und eine Tür schien wie eben gerade erst aufgeschwungen. Unzählige Hemden hingen mehr oder weniger krumm auf Bügeln, in den Fächern stapelten sich Hosen. Nun verstand Jeanne, warum Victor alles herumliegen ließ, denn er schien genug Vorrat zu haben. Das Bett ähnelte dem von Lucien, es war schlicht und aus dunklem Holz. Die Decken waren einfach nur zurückgeschlagen und die Kissen zerknautscht, doch die Bezüge sahen sauber und frisch aus. Ihre Augen wanderten umher, wollten eine persönliche Note ausmachen, doch sie fand nichts. Schließlich blieb ihr Blick an dem kleinen Gemälde hängen, das den einzigen Schmuck des Zimmers ausmachte. Es zeigte eine dunkle Figur auf einer Brücke über einem schwarzen Fluss. Das fast nur skizzierte Antlitz der Gestalt war unnatürlich verzogen zu einer maskenhaften Fratze, unter ihr nur die schmalen Planken der Brücke und darunter nichts als der freie Fall in ein bodenloses Nichts. Jeanne sah in das kaum noch menschliche Gesicht und erkannte abgrundtiefen Horror, nicht enden wollenden Schmerz und eine so unendlich große Einsamkeit, dass es ihr den Hals zuschnürte. Sie spürte die Leere, die diese Gestalt umgab, so als würde um sie herum selbst die Luft zum atmen vor ihr fliehen. Die Hände hatte sie an ihre Wangen gelegt, fast als wolle sie prüfen, ob es sie selbst noch gab, als ob sie spürte, dass sie mehr und mehr zu schwinden begann, als wolle sie sich selbst zusammen halten. Die Verzweiflung, die diese haarlose Fratze umwaberte wie ein tödlicher Nebel, schien alles um sie herum einzuhüllen und zu ersticken. Farben wurden zu müden Abbildern ihrer selbst, Menschen zu leeren, konturenlosen Hüllen und Landschaften verwischten zu schemenhaften Trugbildern. Das Bild zeigte Personen, Landschaften und Bauwerke, doch eigentlich war es die Abbildung einer großen, alles zerstörenden Leere.
Jeanne drehte sich von dem verstörenden Gemälde weg, schwang herum und sah noch mal auf das Bett. Das Kopfende lag so, dass man das Gemälde von da aus perfekt im Blick hatte.
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