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Honigmilch

Honigmilch

Titel: Honigmilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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vergangenen Sonntag hätten wir beinah einen überfahren, gell, Doc. Aber alles halt bloß beinah .«
    »Weißt jetzt immer noch nicht, wie einer ausschaut?«, erkundigte sich der hakennasige Zollfahnder grinsend beim Doc.
    Der lachte gutmütig, nahm seine Brille ab und blinzelte in die Runde. »Klar weiß ich das. Ein Wolpertinger sieht jede Minute anders aus. Ihr habt ihn vor Zeiten erfunden, und ständig erschafft ihr sein Erscheinungsbild neu.«
    »So einfach ist das nicht«, widersprach ihm Max. »Da gibt’s ganz strenge Grundregeln. Als Erstes musst du wissen, ob du es mit einem Feld-, Wald- und Wiesenwolpertinger, mit einem Fluss- oder Seewolpertinger, mit einem Flederwolpertinger oder mit einem Gebirgswolpertinger zu tun haben willst. Der Waldwolpertinger zum Beispiel braucht kräftige Hinterbeine und starke Hörndl, die er sein Leben lang nicht verlieren darf.«
    »Hin und wieder sollen aber auch schon Mischkreaturen gesichtet worden sein«, warf Sepp ein. »Eulenartige mit Flossen, Hasenähnliche mit Flügeln.«
    Fanni hörte nicht mehr richtig hin. Es war doch immer dasselbe, wenn man mit urwüchsigen Bayerwäldlern zusammenkam. Zuerst belehrten sie einen darüber, wo der Weißwurstäquator verlief, und dann tischten sie einem den Wolpertinger auf. Fanni war des Wolpertingergeschwätzes überdrüssig.
    Im Bayerwald hatte man dieses Fabelwesen in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts erschaffen, damals, als die ersten Sommergäste hierherreisten. Und heutzutage gab es noch immer Bayerwäldler, die weder Zeit noch Mühe scheuten, ständig neue Wolpertinger zu erfinden. Rudi beschrieb soeben den Spratzlwurgler – Fanni hätte sich die Ohren zuhalten müssen, um seiner Stimme zu entgehen –, eine Art Hamster mit Federkleid und Rehbockgeweih. Sepp übertrumpfte ihn mit dem Bolznschwanz, ein Feldhase mit einem Biberschwanz, einer Barschflosse auf dem Rücken und Widderhörnern auf dem Kopf.
    »Allen Wolpertingern gemeinsam«, rief Doc Haller, »sind die Reißzähne, die ihnen aus dem Maul bis übers Kinn hinunterragen.«
    Wenn sie sich auf Wolpertinger einschießen, dachte Fanni und löffelte die Suppe, die Sprudel für sie beide bestellt und die Heide soeben aufgetragen hatte, dann werden wir heute nichts mehr über Annabel und Irina erfahren. Und über das, was sich letzten Sonntag zugetragen hat, schon gar nicht.
    Sie schossen sich ein.
    Rudi kündigte dem Doc soeben an, dass er spätestens Ende Oktober einen Wolpertinger zu sehen und sogar zu kosten bekommen würde. Dem folgenden Hin und Her von Sticheleien und Anspielungen entnahm Fanni, dass Max alljährlich zum Saisonabschluss einen Wolpertingerbraten auf den Tisch brachte. Sie erfuhr sogar, wie er ihn zubereitete, und sagte sich wieder einmal, dass vielen Leuten für blanken Unfug kein Zeitopfer zu groß war.
    Max brüstete sich damit, am letzten Tag der Hüttensaison bereits um fünf Uhr früh in der Küche zu stehen. Für den Wolpertingerbraten, erklärte er, löse er als Erstes von einer Wachtel die Knochen aus und brutzle den Vogel dann außen schön braun. Genauso verfahre er mit einer Taube, einem Huhn und einer Ente. Dann stecke er die Wachtel in die Taube, die Taube in das Huhn, das Huhn in die Ente und die Ente in eine Gans. Nun müsse die Gans samt Inhalt gut vier Stunden lang knusprig gebraten werden.
    Fanni stöhnte vor Langeweile, was Bergwacht-Rudi prompt falsch interpretierte.
    »Du musst dir heuer anschaun, wie der Max die Wolpertingergans auf den Tisch bringt«, keckerte er. »Der Max montiert ihr die Flügel wieder an und steckt ihr ein Geweih in den Hals. Sogar vier Klauenfüße bastelt er links und rechts hin.«
    »Geh weiter, Heide«, rief der Wirt, »bring noch eine Runde Schnaps.«
    Fanni konnte einen brauchen.
    »Vielleicht«, sagte da Sprudel, »geht ja bei euch neuerdings ein Wolpertinger um, der junge Mädchen derart erschreckt, dass sie abstürzen und sich das Genick brechen.«
    Prima, Sprudel, dachte Fanni, du hast es geschafft, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Oder hast du uns, fragte sie sich, soeben ganz unbewusst die Lösung präsentiert? Vielleicht hast du das, überlegte sie. Vielleicht sollten wir uns Annabels Mörder als Mischwesen vorstellen. Als Kreatur, die sich mit Attributen anderer Geschöpfe tarnt.
    »Dazu braucht’s keinen Wolpertinger«, rief Rudi. »Dazu haben wir die Mädchenhändler, die tschechischen Schlepper, die Luden.«
    »Wen nun?«, fragte sich Fanni.
    »Was redest du

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