Honigmilch
Cognac kaufen und eine Freundin besuchen wollte, die gleich vis-à-vis wohnt. Als er zurückkam, war sein Wagen demoliert.«
»Mit einem Vorschlaghammer«, wunderte sich Fanni, »mitten im Ort? Das hätte doch jemand hören und sehen und – dagegen einschreiten müssen.«
»Jonas sagt, der Wagen stand etwas abseits der Hauptstraße, und ganz in der Nähe fand ein Rockkonzert statt, das Wummern aus dem Zelt hätte sogar einen Pressluftbohrer übertönt.«
Bevor Fanni weitere Fragen stellen konnte, fuhr Leni fort: »Jonas musste Frieder Zacher – du weißt doch, das ist der Vater von Thomas, der in Regen eine Reparaturwerkstatt für Kraftfahrzeuge betreibt – mit dem Abschleppwagen kommen lassen. Der BMW steht jetzt auf Frieders Hof. Er hat Jonas den Roller geliehen, damit er nach Hause fahren konnte.«
Leni trat an den Tisch, schaute in ihre Kaffeetasse, trank den letzten Schluck, der sich noch darin befand, und sagte: »Frieder braucht den Roller aber heute noch zurück. Jonas wollte ihn eigentlich in den Geländewagen laden und sofort wieder nach Regen bringen, aber mit dem Geländewagen ist sein Vater unterwegs. Deshalb hat Jonas mich gebeten, ihn zu fahren.« Sie lächelte Fanni zu. »In spätestens einer Stunde bin ich wieder da.«
Und damit war Leni aus dem Haus. Kurz darauf sah Fanni sie davonfahren – mit dem Roller, dessen Vorderteil aus dem Kofferraum ragte, mit Jonas und mit den Informationen über Irina Svetla.
Anstatt aus dem Fenster zu gaffen, solltest du dich lieber ums Abendessen kümmern!
Fanni begann Kartoffeln zu schälen.
Der Käse auf dem Gratin bräunte bereits, als Leni zurückkam. Gleich nach ihr bog Hans Rot in die Zufahrt. Fanni schaltete das Backrohr aus. Sie wollte eben Teller und Gläser auf den Tisch stellen, da klingelte das Telefon. Fanni ging in den Flur hinaus und hob ab.
Die Stimme ihrer jüngsten Tochter schrie und jammerte und schluchzte in ihr Ohr. Minutenlang wartete Vera mit lautem Wehgeschrei auf, und selbst mit größter Mühe konnte Fanni kein einziges normales Wort aus ihr herausbekommen.
Offensichtlich drang Veras Lamento durchs halbe Haus, denn Leni und Hans Rot stürzten alarmiert herbei. Fanni schüttelte den Kopf, reichte den Hörer an Leni weiter und setzte sich auf den Stuhl beim Telefon.
Was, um Himmels willen, ist denn passiert?, fragte sie sich.
Zugegeben, Vera neigte zu Hysterie, zu Getue und Exaltation. Wenn Vera »katastrophal« sagte, tat man gut daran, das Wort mit »unbequem« zu übersetzen. Aber das, was sie hier am Telefon veranstaltete, ließ in Fanni den Verdacht wachsen, dass »unbequem« die Sache bagatellisieren könnte.
Fanni sah, wie Leni erblasste und den Telefonhörer sinken ließ. »Bernhard hatte einen Unfall«, sagte sie tonlos.
»Tot?«, erkundigte sich Hans Rot.
Leni fragte Vera, ob ihr Mann verletzt sei.
»Liegt im Krankenhaus«, gab sie an ihre Eltern weiter.
»Sag ihr, wir sind schon unterwegs«, kommandierte Hans Rot und sah auf seine Armbanduhr. »Gegen neun sind wir da.« Er wandte sich an Fanni: »Pack! Toilettensachen, Wäsche, Hausschuhe – und ein paar Flaschen Pilsener für mich. Bernhard hat nie Pilsener im Haus. Abfahrt in zehn Minuten – und nimm das Abendessen mit.«
Fanni rannte in den Keller, um die Reisetasche und das Bier zu holen.
Dieser überwältigende Pragmatismus, der Hans in verhängnisvollen Situationen an Hausschuhe und Bier zu denken gestattet, ist es, was ihn unersetzlich macht, dachte sie dabei.
Leni stand bereits mit einer vollgepackten Tasche im Flur.
Hans Rot knipste die Lampen in Esszimmer und Küche aus, zog den Stecker vom Fernsehapparat, dann lief er die Treppe hinauf, um nachzusehen, ob Leni ihren Computer ausgeschaltet hatte.
Fanni schlüpfte in ihre Jacke und griff nach ihrer Handtasche. Das Tütchen mit den Schokoladeherzen, das auf ihrem Kopfkissen in der Weiberkammer gelegen hatte, fiel heraus. Fanni hatte es beim Auspacken des Rucksacks gefunden und in ihre Handtasche gesteckt. Sie stopfte es wieder zurück und eilte nach draußen.
Hans Rot ließ den Wagen an.
Dreieinhalb Stunden später erreichten sie Klein Rohrheim am Rhein, das Dörfchen, in dem Veras Mann eine Zweigstelle der Sparkasse leitete.
Er saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah sich die Sportnachrichten im Fernsehen an. Sein Handgelenk war bandagiert, quer über seiner Wange klebte ein Pflaster.
»Bloß ein paar Prellungen, sagen die Doktoren«, erklärte er. »Nichts, was mich daran hindern
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