Honigmilch
Vielleicht hockt er in einer Truhe oder Kommode und kommt von alleine nicht mehr heraus.«
Der Polizeibeamte lachte spöttisch. »Und in dieser Truhe hat er sich selbst mit seinem Taschentuch geknebelt, damit er nicht schreien kann.«
»Wollen wir nicht lieber noch einmal nachsehen?«, sagte Leni.
»Ich suche im Keller«, meinte Fanni und folgte Leni, die bereits auf den Hauseingang zusteuerte.
Der Polizeibeamte sah ihnen verdattert nach.
Fanni schloss die Tür und wollte sich zur Kellertreppe wenden, da sagte Leni: »Ich glaube Minna jedes Wort: Max besucht regelmäßig seinen Freund in der geheimen Höhle. Aber Max ist immer nur ganz kurz weg. Außer heute.«
Fanni wurde blass. Leni sah sie an und sagte: »Im ersten Moment habe ich das auch gedacht. Jemand, den Max gut kennt, schleppt ihn regelmäßig in ein Versteck und missbraucht ihn.«
»Und jetzt glaubst du das nicht mehr?«, flüsterte Fanni.
»Schau, Mama«, sagte Leni, »Kinder, die missbraucht werden, verändern meist ihr Naturell. Vera würde gemerkt haben, dass bei Max was nicht stimmt.«
Fanni nickte und wünschte sich verzweifelt, Leni läge richtig.
Wer ist denn dieser Freund, der sich mit Max vor aller Augen versteckt?, fragte sich Fanni. Ein Spielkamerad aus dem Kindergarten? Wohl kaum, dachte sie. Kleine Buben kann man nicht fortwährend übersehen und überhören, sie schleichen nicht gewohnheitsmäßig durch Hinterhöfe wie Jack the Ripper. Es muss ein Erwachsener sein, der Max verstohlen in einen Schlupfwinkel lockt.
Fanni wurde wieder übel. Leni legte ihr den Arm um die Schultern. »Mama, Max kann nicht weit sein. Wenn Minna ›ganz kurz‹ sagt, dann meint sie höchstens ein paar Minuten. Falls Max öfter für längere Zeit verschwunden wäre, hätte es ja auch Vera auffallen müssen.«
Fanni nickte und stieg die Kellertreppe hinunter.
Leni machte sich auf den Weg zum Dachboden.
Fanni betrat den Kellerraum, in dem Vera ihre Vorräte aufbewahrte. Sie schlängelte sich zwischen den Bier- und Limokästen durch, umschiffte den alten Küchentisch, auf dem sich Milchkartons und Breipackungen stapelten, und stieß mit dem Knie an die Tiefkühltruhe. Fanni erstarrte. Was, wenn Mäxchen da hineingekrochen war? Vielleicht wollte er sich das Vanilleeis verschaffen oder die Apfelküchlein. Und dann war der Deckel zugeknallt.
Fannis Hand umklammerte den Griff. Mit einem Ruck öffnete sie die Tiefkühltruhe und kniff dabei die Augen zu. Würde sie – was Gott verhüte – ein raureifüberzogenes, steif gefrorenes Mäxchen zu Gesicht bekommen?
Reiß dich zusammen, Fanni!
Sie blinzelte. Zwei Forellen glupschten ihr mit weiß hervorquellenden Augäpfeln entgegen. Daneben erhob sich ein schiefer Turm aus Pizzaschachteln. Dahinter lagen kreuz und quer die Eispackungen. Keine Spur von Max.
Fanni atmete auf und schloss den Deckel. Sie stöberte noch eine Weile hinter leeren Kartons herum und öffnete die Türen eines alten Küchenbüfetts, in dem sich Marmeladengläser und Konservendosen den Platz streitig machten und kein Eckchen für Max übrig ließen. Nach einem letzten Blick in die Kartoffelkiste verließ Fanni den Vorratskeller und trat in den Heizungsraum.
Vier Öltanks hockten hinter einem halbhohen Mäuerchen, dazwischen lagen Staubflusen, tote Spinnen und gewöhnlicher Dreck. Würde Max da hineinkriechen? Fanni beugte sich über die Mauer und starrte in den zehn Zentimeter breiten Spalt zwischen dem ersten und dem zweiten Tank. Wenn Max dort hinuntergerutscht war, würde er feststecken. Aber Max klemmte nicht in dieser Lücke, auch nicht in der nächsten oder übernächsten.
Fanni schlug die Stahltür des Heizraums zu und öffnete die mit Kinoplakaten bepflasterte Tür, die in den größten Raum des Kellers führte, in dem Vera und Bernhard alles abstellten, was anderswo im Weg stand.
Fanni sah sich Bergen von Gerümpel gegenüber.
Sie wandte sich nach rechts und kletterte über einen Wall ausgedienter Neonröhren. Dann schlängelte sie sich zwischen zwei Polstersesseln durch, die Rücken an Rücken zueinander standen, und überlegte eben, wie sie das Sofa überwinden sollte, das ihr den Weiterweg ins Dunkel des äußersten Winkels versperrte, als sie Mäxchens Stimme hörte:
»Omi, mir war so schlecht.«
Fanni ließ sich auf die Couch plumpsen. So, Fanni Rot, dachte sie. Du hörst also schon Stimmen! Du hörst die Stimme von Max aus der Dunkelheit.
Was nur einen einzigen vernünftigen Schluss zulässt: Du hast den Verstand
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