Honigmilch
Stämme abgestorbener Bäume wie löchrige Zahnstummel in den Himmel ragten.
»Nationalparkidylle«, knirschte Fanni. Sie blieb stehen, sah hierhin und dorthin, drehte sich einmal um sich selbst und sagte dann: »Weißt du, Sprudel, wie ich den Ort hier finde?« Sie wartete sein Kopfschütteln nicht ab. »Traurig, öde, unheilvoll, morbid.«
Weil Sprudel keine Antwort gab, fügte sie hinzu: »Ja, ich weiß, auch das gehört zur Natur!« und setzte sich wieder in Bewegung.
»Was ihm wohl fehlen könnte?«, fragte Sprudel nach einigen Schritten.
Fanni wusste sofort, wen er meinte, und zählte auf: »Grippe, Magenkatarrh, Darmstörungen – Vergiftung, Polio, Cholera, Typhus.« Auch sie hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht.
»Dieser kranke Nationalparkranger«, sagte Sprudel, »ist derselbe, der Irinas Leiche im Höllbach gefunden hat.«
»Warum wundert mich das nicht?«, fragte Fanni.
Stumm setzten sie ihren Weg fort und erreichten bald die kleine Hochebene unter den Gipfelfelsen, auf der die Falkenstein-Schutzhütte stand. Aus der Kapelle vis-à-vis tauchte Bergwacht-Rudi auf und steuerte auf den Anbau unterhalb der Hütte zu.
»Der Bergwacht-Dienstraum scheint ja doch bemannt zu sein«, sagte Fanni, »obwohl heute ein Werktag ist.«
»Wir könnten den Herren einen kleinen Besuch abstatten«, schlug Sprudel vor und hielt schon auf den Eingang des Anbaus zu.
In der offenen Tür stand Rudi.
»Heute Sonderdienst?«, fragte Sprudel.
Rudi grinste breit und verkündete: »Geburtstag!«
Fanni fragte sich, wer wohl ein Jubiläum zu feiern hatte: der Bergwachtverein? Der Naturfreundeverein? Die Falkenstein-Schutzhütte selbst? Sie hatte schließlich jahrzehntelang allen Unbilden getrotzt.
Da trat Sprudel an Rudi heran und reichte ihm die Hand. »Herzlichen Glückwunsch.«
Fanni schloss sich eiligst an.
»Der Fünfundfünfzigste ist mir schon einen Tag Urlaub von meiner Arbeitsstelle und ein paar Mücken wert«, meinte Rudi. »Gut dreißig Leute kommen heut noch rauf auf den Falkenstein, dann wird gefeiert. Alle meine Kameraden rücken geschlossen an, und sämtliche Grünzeug-Gendarmen werden eintrudeln. Von meinen Verwandten sitzen etliche schon seit Mittag in der Schutzhütte drüben. Für die Kaffeegäste hat der Max extra seine berühmte Eiercremetorte gemacht. Und um sieben gibt’s Schweiners mit Knödel und Sauerkraut. Wollt’s auch mitessen? Für euch zwei langt’s leicht noch.«
Sprudel lehnte dankend ab.
Fanni schüttelte den Kopf. Da fasste Rudi nach ihrer Hand und zog sie in den Dienstraum. »Aber anstoßen müsst ihr mit mir. Setzt euch her da.«
Wohl oder übel nahmen sie Platz.
Rudi verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer Flasche Sekt zurück. Zum Glück schäumte der »Henkel trocken« schier so heftig wie der Höllbach, sodass die Gläser nur zwei Finger hoch Flüssigkeit enthielten, nachdem alle Schaumblasen geplatzt waren.
Fanni schnappte sich eines, bevor es Bergwacht-Rudi weiter auffüllen konnte. Und dann tranken sie zuerst auf Rudis Gesundheit und gleich danach auf Rudis sicheren Arbeitsplatz. Er arbeite als Werkzeugmacher in einem kleinen Betrieb in Bayrisch Eisenstein, erzählte er.
Ein paar Minuten später brachte Sprudel einen Toast auf den Nationalpark aus, und Rudi erhob sein Glas auf die Bergwacht. Fanni nahm einen winzigen Schluck für den Bergwachtverein, dabei fiel ihr Blick auf einen der Kleiderhaken neben der Anrichte. Eine Fotokamera an einem blauen Band hing daran. Fanni starrte hin, blinzelte und starrte wieder hin.
»Aha«, sagte Sprudel plötzlich, dabei schwenkte er sein Glas in Richtung der Stelle, an der Fannis Blick sich festgesogen hatte, »die Höhepunkte der Feier heute Abend müssen wohl festgehalten werden.«
»Sowieso«, lachte Bergwacht-Rudi. »Hab mir extra eine Digitalkamera gekauft. Vor drei Wochen schon. Musste mich ja zuerst mal anfreunden mit dem Maschinchen.« Ernster werdend sagte er: »Das winzige Ding macht wirklich gute Bilder. Ein herkömmlicher Apparat kann da nicht mehr mithalten – bei der Bildqualität nicht und beim Preis erst recht nicht.« Rudi nahm die Finger zu Hilfe und zählte auf: »Fünf Megapixel, Vierfach-Zoom, Speicherkarte – alles zusammen für hundertzwanzig Euro. Lohnt sich, die Ausgabe.«
»Auf jeden Fall«, meinte Sprudel. »Wer will schon heutzutage noch Kodak-Filme verknipsen?«
Rudi griff sich die Kamera vom Haken, schaltete sie ein und hielt das Display vor die Nasen seiner Gäste. »Hab ich vorhin
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