Honigmilch
Leni mit Papier rascheln.
Jetzt schlägt sie unter »Typhus« nach, dachte Fanni und wartete. Nach einer Weile sagte Leni: »Die Inkubationszeit beträgt bei Typhus acht bis vierzehn Tage. Übertragungen erfolgen fäkal-oral, beispielsweise durch verunreinigte Nahrungsmittel oder verschmutztes Wasser. Fünf Prozent aller Erkrankten bleiben Dauerausscheider der Erreger, sie können andere anstecken, ohne selbst Symptome zu zeigen.«
»Hm«, meinte Fanni, »es könnte also sein, dass sich unser Ranger infiziert hat, weil er Wasser trank, in das ein Dauerausscheider zuvor gepinkelt hatte.«
»Nein, nicht gepinkelt, Mama«, korrigierte Leni und fuhr fort: »Stellen wir uns doch mal vor, so ein Dauerausscheider wandert durch den Wald. Plötzlich muss er sich ganz dringend entleeren, weil er zu viele Dörrpflaumen gegessen hat. Unglücklicherweise fließt ganz nah an dem Plätzchen, das er sich für sein Geschäft ausgesucht hat, ein Bächlein vorbei, und dummerweise fängt es wenig später an, in Strömen zu regnen. Das Bächlein schwappt über das Ufer und schwemmt mit, was dort stinkt. Ein Stück weiter unten hält der Nationalparkranger seine Feldflasche in den Wasserschwall und füllt sie auf. Im Laufe des Tages trinkt er sie leer, und eine Woche später erkrankt er an Typhus.«
»Ich würde ja deine Geschichte von dem Dörrpflaumen verzehrenden Dauerausscheider im Überschwemmungsgebiet gerne glauben«, sagte Fanni darauf, »wenn nicht in derselben Region bereits Polioviren und Syphiliserreger ihr Unwesen getrieben hätten. Womit haben wir es denn hier zu tun? Mit einem Gipfeltreffen bösartiger Keime?«
Leni schwieg eine Weile, dann antwortete sie: »Möglich wäre es.«
Fanni ließ zischend den Atem entweichen.
»Denk dir einen Gau, Mama«, fuhr Leni fort, »einen Gau, so wie den damals in Tschernobyl. Nur mit dem Unterschied, dass der Unfall in einem Forschungslabor geschieht und nicht in einem Atomreaktor.«
»Kann ich mir leicht vorstellen«, sagte Fanni. »Ein Gasfläschchen explodiert, ein Brand bricht aus, ein paar Glasscheiben platzen. Bakterien und Viren werden herumgewirbelt wie Herbstblätter, kontaminieren die gesamte Laboreinrichtung einschließlich der Kaffeekanne. Denkbar, wenn auch recht unwahrscheinlich bei den heutigen Sicherheitsstandards.«
Bevor Leni zu Wort kam, fuhr Fanni fort: »Undenkbar ist allerdings, dass – wie in Tschernobyl die radioaktiven Teilchen – Polioviren und Typhusbakterien vom Wind aufgenommen, als Wolke in Richtung Bayerischer Wald geblasen und dort heruntergeregnet werden.«
»Undenkbar, unsinnig, absurd«, bestätigte Leni, »aber was, wenn – um den Unfall zu vertuschen – verseuchtes Material illegal entsorgt wurde? Natürlich nicht in der Nähe des Betriebes, damit niemand auf die Idee kommt, etwa auftretende Infektionen mit dem Labor in Verbindung zu bringen. Erst recht nicht in der Nähe größerer Ortschaften, um das Infektionsrisiko gering zu halten. Eher im Nationalpark, wo sich mehr Tiere als Menschen aufhalten und die Menschen sowieso nur bestimmte Zonen betreten dürfen.«
Fanni dachte über das von Leni heraufbeschworene Szenario nach.
Nach einer Weile hörte sie ihre Tochter fragen: »Findest du die Theorie zu abwegig?«
»Ich …«, begann Fanni, wurde aber von Leni unterbrochen.
»Sie hat einen großen Haken: Treponema, der Syphiliserreger, ist außerhalb seines menschlichen Wirts zum Tod verurteilt.«
»Wodurch die gesamte Theorie wie ein Kartenhaus einstürzt«, sagte Fanni.
»Nicht ganz«, erwiderte Leni. »Hier lese ich gerade, dass Treponema außerhalb des menschlichen Körpers zwar nur für sehr kurze Zeit überleben kann, sich aber umso länger hält, je niedriger die Sauerstoffkonzentration seiner Umgebung ist – in Sumpf und Moder müsste das der Fall sein. Zudem ist es gelungen, Treponema pallidum außerhalb des menschlichen Körpers zu kultivieren.« Sie gluckste. »Weißt du, wo? In Kaninchenhoden.«
Fanni schnaubte. Leni verabschiedete sich lachend. »Du solltest meine geniale Lösung mal mit Sprudel diskutieren, Mama«, riet sie und legte auf. Fanni drückte auf die rote Taste ihres Handys und starrte sie eine Zeit lang an
11
Am Donnerstag, den 28. September, brachen Fanni und Sprudel zeitig nach Bergreichenstein auf. Sie hofften, dort in Erfahrung zu bringen, was Irina unternommen hatte, um bei ihrer Jagd nach einer guten Partie Beute aufzustöbern.
Gegen neun passierten sie die Grenze in Eisenstein. Wenige
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