Honigmilch

winkte ab. »Dann wird sich der Doc halt geirrt haben.«
    »Der allseits gerühmte Krautdoktor soll sich irren«, rief Fanni, »und das gleich doppelt?«
    »Doppelt?«, fragte Sprudel.
    »Auf der Verpackung steht außerdem, dass Ysop bei Husten, Heiserkeit und geschwollenen Mandeln sehr zu empfehlen ist. Von Rheuma, Migräne oder gar Herzrasen habe ich nichts gelesen.«
    »Seltsam«, musste Sprudel zugeben.
    »Warum lügt der Mann?«, sagte Fanni anklagend.
    Sprudel schien darüber nachzudenken. Plötzlich sagte er: »Könnte es nicht sein, dass der Doc sein Wissen geheim halten will, damit er – nur er allein – der allseits gerühmte Krautdoktor bleibt?«
    »Sprudel«, entgegnete Fanni, »wir befinden uns nicht im Mittelalter. In jedem Lexikon kannst du dich über Ysop & Co. informieren.«
    Sprudel nickte und schwieg. Nach einiger Zeit sagte er: »Täusche ich mich, oder ist dir Doc Haller ebenso suspekt wie es dein Nachbar war, der sich später als Mörder entpuppt hat?«
    Fanni schüttelte den Kopf. »Der Nachbar und seine Frau haben jahrzehntelang nur einen Katzensprung von mir entfernt gewohnt. Von meinem Küchenfenster aus konnte ich in ihre Suppenteller sehen. Ihr Alltag spielte sich vor meinen Augen ab, und ich habe fast täglich mit ihnen gesprochen, deshalb konnte ich mir ein Bild von ihnen machen. Unser Doc dagegen ist ein Wildfremder für mich. Der Verdacht, der irgendwo in meinem Kopf gegen ihn zu gären scheint, hat wohl wenig mit konkreten Wahrnehmungen zu tun.«
    »Trotzdem«, soufflierte Sprudel.
    »Kein Trotzdem diesmal«, lächelte Fanni. »Außerdem hat der Doc ein wasserdichtes Alibi. Wenn es wirklich stimmt, dass er erst um zwölf Uhr Bodenmais passierte, dann kann er Annabel nicht totgeschlagen haben. Er hatte noch eine halbe Stunde bis Zwiesler Waldhaus zu fahren, und dann lagen eineinhalb Stunden Aufstieg vor ihm. Selbst gut trainierte Leute schaffen es über die Steinbachfälle kaum schneller.« Sie legte die Stirn in Falten. »Andererseits – vielleicht sollten wir doch noch Docs Frau besuchen und ein kleines Schwätzchen über den Verlauf des Sonntagvormittags mit ihr halten.«
    Sprudel schlug sich an die Stirn. »Ich habe glatt vergessen, dir zu sagen, dass Doc Hallers Alibi erhärtet ist. Neulich, als ich wieder einmal die Protokolle durchgegangen bin, habe ich festgestellt, dass es eine Aussage von einem Ranger gibt, der den Doc am fraglichen Sonntag kurz vor halb eins vom Parkplatz Zwiesler Waldhaus weggehen sah. Selbst wenn er sich beeilt hätte, konnte unser Doc nicht vor zwei Uhr auf dem Gipfel des Falkenstein gewesen sein.«
     
    Sie passierten die Stelle, wo der Ranger gelegen hatte, und schwenkten dann nach rechts in Richtung Scheuereck.
    »Und wie steht es mit den Alibis der anderen Stammtischbrüder?«, fragte Fanni.
    »Zu der Zeit, als Annabel starb«, antwortete Sprudel, »zwischen ein und zwei Uhr mittags grob gesagt, waren alle mindestens paarweise zusammen, sodass sie sich gegenseitig entlasten: die Nationalparkranger, Rudi und Sepp …«
    »Glaubst du«, unterbrach Fanni, »Sepp wäre es aufgefallen, wenn sich Rudi für ein halbes Stündchen davongemacht hätte?« Sie gab sich selbst die Antwort: »Er hätte es genauso wenig gemerkt, wie Max es auf seinem Platz in der Küche mitbekommen hätte, ob Heide fort war.«
    »Fanni«, sagte Sprudel, »ich rede von dem, was sich aus den Protokollen ergibt.«
    »Prima«, entgegnete Fanni, »dann bleibt also wieder nur Severin übrig.«
    »Du verdächtigst ihn doch selbst krimineller Machenschaften.«
    »Ja, aber nicht des Totschlags an Annabel. Es ergibt keinen Sinn, ihm das anhängen zu wollen. Entweder Severins Alibi stimmt, dann war er es nicht, oder es ist getürkt, dann müsste er ein Idiot sein.«
    Sprudel zog Fanni an den Wegrand, weil ihnen ein Geländewagen entgegenkam.
    »Dafür, dass es sich hier um eine Naturschutzzone handelt, wird eine Menge Auto gefahren«, empörte sich Fanni.
    Gefahren, gefahren, gefahren …!
    Als der Wagen sie passiert hatte, deutete Sprudel auf eine lila blühende Pflanze und sagte:
    »Schau, Fanni, das hier ist Ungarischer Enzian.«
    Fanni fasste die runden Blütenkelche und die gezackten Blätter ins Auge. »Also ich halte das für eine Taubnessel«, meinte sie.
    »Falsch«, grinste Sprudel, »und ich kann es dir sogar beweisen. Doc Haller hat mir neulich so eine Pflanze gezeigt, ich habe sie gepflückt, gepresst und auf einen zuvor beschrifteten Karton geklebt. Der Ungarische Enzian